Babel Music XP erlebt eine Renaissance. Es wäre dem Marseiller Festival zu gönnen, dass es eine nachhaltige Renaissance wird.
Das World Music Festival Babel Music XP musste eine Zwangspause einlegen. Bis 2017 hiess es Babel Med. Dann stieg der Hauptsponsor aus. Dann kam Corona.
Jetzt erfolgt ein Neustart, wobei Festival-Direktor Olivier Rey lieber von einer Renaissance spricht, und einer Dienstleistung an die Musik-Szene ganz generell. Denn auch die muss sich von den Corona Wirren erholen. Ein (französisches) Gespräch mit Olivier Rey bringt Gomet
Ana Carla Maza – Energiebündel
Um 20.00 Uhr ging’s denn auch pünktlich auf der ersten von drei Bühnen in den Docks des Sud los. Als Energie-Bündel mit Cello könnte man Ana Carla Maza bezeichnen. Zudem ausgestattet mit einer sicheren, kräftigen Stimme und einem Talent für Songwriting, das Kulturgrenzen verwischt. Oft tritt sie alleine auf, doch für den Gig in Marseille liess sie sich mit einem kräftigen Trio (Piano, Perkussion und Schlagzeug) begleiten.
Die Sängerin ist auch mit viel Talent für den dramatischen Bühnenauftritt ausgestattet. Dass sie immer mal wieder zum mitsingen auffordert, schadet etwas ihrem Bühnencharme.
Walid Ben Selim – Sufi Gedichte
Walid Ben Selim ist eine Ausnahmeerscheinung, und ein Mann der Stunde: eingeladen an stilistisch ganz unterschiedliche Festivals, Aufträge von Oper- und Schauspielhäusern, Komponist von Filmsoundtracks und interdisziplinären Projekten. Der Marokkaner setzt mit seinen Interpretationen von Sufi-Gedichten aus allen Jahrhunderten in der oft lauten und hektischen Pop-Welt ein Gegengewicht. Begleitet wird er von der klassisch ausgebildeten Harfenistin Marie-Marguerite Cano.
Die Texte, die Walid interpretiert, belegen die engen Verbindungen von Poesie und Spiritualität in der muslimischen Welt. Gedichte von Rumi, aber auch dem erst kürzlich verstorbenen palästinensischen Dichter Mahmud Darwisch werden mit viel Ausdruck, aber ohne Pathos deklamiert und gesungen.
Sarab – zurückgehaltene Trauer und Zorn
Sarab wird auf der Bühne angeführt von der franko-syrischen Sängerin Climène Zarkan. Unterstützt wird sie von einer energetisch wirbligen Band mit einem eher ungewöhnlichen Solisten: Robinson Khoury mit seiner Posaune.
Von der Bühne kommt ein melodisches Wechselspiel zwischen nachdenklichen, fast nur a capella vorgetragenen Ballade über das Leben im Exil. Dann wieder donnert die Band los, als stehe ihr die gesamte Macht der Obrigkeit gegenüber. Strassenszenen, Demonstrationen, Zerrissenheit werden Klang, und manchmal auch Lärm.
Lolomis – ersungene Kulturen
Das Quartett mit Gravitationszentrum Strasbourg hat sich seine eigenen Welten erspielt. Nachdem es sich in jüngeren Jahren noch an Vorbilder aus Folk und Tradition gehalten hatte, spielte es sich frei, und begann u.a. Sprache zu Lautmalerei einzuschmelzen. Die ungewöhnliche Instrumentierung mit Harfe, Flöten und Schlagwerk wuchs in elektronische Gefilde, wurde kräftiger.
Es ist eine französische Truppe, will heissen: Hang zum Dramatischen und keine Angst vor Stilbrüchen. Und in der Live-Situation durchaus zielgerichtet auf die Tanzbeine.
Davide Ambrogio – Kulturschatz im Rechner
Davide Ambrogio ist alleine auf der Bühne. Umgeben von seiner Gitarre – die er aber als Hackbrett benutzt – vielen Perkussionsinstrumenten, einem Dudelsack und seinem Rechner. In den digitalen Speichern hat er sein Archiv dabei: Geräusche aus der Natur, polyphone Gesänge, Rhythmusschlaufen.
Aus diesen Zutaten erweckt er ein Bild von Kalabrien zwischen Naturverbundenheit und Technologie, zwischen Tradition und digitaler Weltoffenheit. Sehr gekonnt inszeniert und dargeboten von Davide. Er wirkt aber etwas einsam, zwischen Dudelsack und Computer, zwischen gestern und heute.
An’Pagay – Electro-Maloya, oder doch eher Sega?
Breitseite ist angesagt. Per Definition als Electro-Maloya gehandelt, kommt das Ganze eher als überdrehter Sega daher. Zwei Dreier-Gruppen sorgen für Druck: Das Fronttrio sorgt gute Laune und Call-Response Gesänge. Im Hintergrund drücken ein mit Plektrum scharf gespielter Bass und zwei Drummer auf’s Pedal.
Lucas Santtana – nachdenklicher Songwriter, verstärkt
Die letzten Produktionen von Lucas Santtana kommen eher aus der stillen Ecke. Man sieht den Brasilianer, mit momentaner Heimat Frankreich, auch eher mit der akustischen Gitarre in Fernseh-Auftritten, oder in kleinen Clubs. Für Marseille hat er sich Schub geholt.
Begleitet von einem groovenden Schlagwerker und einem Sideman an Keyboards und Bass greift der Songschreiber auf die lüpfigeren Songs aus den letzten Jahren zurück. Er ist gut gelaunt und weiss, dass es hier nicht – wie auf dem letzten Album – um die Rettung der Welt geht, sondern um fröhliche Unterhaltung. Ein fast ironisches «Iii-hei» in guter Cowboy-Manier schliesst auch fast jeden Song ab.
S.T.O.R.M. – Folk-Trance trifft Heavy Metall
Uralte Tradition, sprich Drehleiher, trifft auf Perkussion aus allen Weltregionen. Das wäre die abgeklärte Beschreibung für die Musik dieses Duos. In Tat und Wahrheit trifft ein technisch aufgemotztes altes Instrument in Heavy-Metall-Stimmung auf einen Haudrauf-Schlagwerker mit grossem Fell-Park. Der Drehleiher-Mann war früher auch mal Schlagzeuger, und weil er ja noch beide Füsse frei hat, stehen da zwei zusätzliche Pauken. Und die werden auch bedient!
Tanz ist angesagt, Veitstanz um es etwas konkreter zu benamsen. Selbst nach melodischen Intros kippen die Songs in der zweiten Hälfte gerne in den Overdrive, und ab geht die Post. Das Duo auf der Bühne liefert Energie, das Tanzpublikum geniesst es.
Kutu – Ethio-Trance mit jazziger Geige
Zum Abschluss des ersten Abends am Babel Music XP geht’s gleich nochmals in die Tanzbeine. Kutu ist eine erstaunlich tragfähige Kulturbrücke zwischen französischem Jazz, äthiopischen Melodien und einer Songstruktur Marke Dancefloor.
Der Geiger Théo Ceccaldi und die Sängerin Hewan Gebrewold nutzen das präzise Räderwerk von Bass, Schlagzeug – ein Drummer in Berserkerlaune und mit grosser Dynamik! – und Keys, um Ausflüge in alle Windrichtungen zu machen. Wirklich gelungener Mix, der selbst zu später Stunde noch Lust auf mehr macht. Und auch viel energiegeladener daherkommt, als die Studioproduktion.
Heute geht es weiter mit u.a. Maria Mazzotta, Moonlight Benjamin oder Dowdelin. Volles Programm gibt’s hier: Babel Music XP.
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