Gäste aus Kanada, viele Frontfrauen und eine rechte Portion Hip Hop und Rock prägten die zweite Konzertnacht am Babel Music XP Festival in Marseille.
Zuerste eine Bemerkung: Wenn ich als Tourist von Einheimischen auf der Strasse gefragt werde, wo denn genau der Eing zu den Docs du Sud, sei, hat die Festival-Kommunikation eines richtig gemacht: Leute angesprochen, sich für Musiken zu interessieren, die ihnen vorher fremd war.
Mayssa Jallad – Lamenti aus Beirut
Um zu verstehen, warum die Songs von Mayssa Jallad vor allem langatmige Lamenti sind muss man nur wissen, woher die Frau stammt: Libanon. Da gibt’s wirklich genug zu beklagen. Sie wird begleitet von einem Duo an Schlagwerk und Keys/Gitarre/Gesang.
Wobei begleiten auch nicht der richtige Ausdruck ist: die Mitmusiker*in weben einen Klangteppich, der oft frei von klaren Rhythmen und harmonischen Aufgaben ist. Er ist gerade kräftig genug, damit die Frontfrau nicht auf der Bühne vereinsamt.
Maria Mazzotta – die Stimme aus dem Salento
Die Sängerin aus dem Stiefelabsatz Italiens singt immer mit Herz und Seele. Oder wie sie selber mal sagte: sie singt aus ihren Gefühlen heraus. Die sind nicht immer nur rosarot und himmelblau, und deshalb ist die aktuelle Formation mit Gitarrist Ernesto Nobili und Perkussionist Cristiano della Monica nicht nur auf die Italianità ausgerichtet, die wir im Norden so gerne haben, sondern das darf auch mal brechen, kratzen, schmerzen.
So ist das aktuelle Liederbuch gut bestückt mit klassischen Melodien, aber die Mazzotta lässt die Gitarre auch mal ein Herzeleid schreddern, Das Schlagzeug wirbelt eine Idylle sehr schnell und effizient auf – wenn’s denn sein soll. Und die sanften Töne, die Melodien von Sehnsucht und Trennungsleid, halten die Balance. Maria Mazzotta hat zwei Begleiter zur Seite, die ihr in jede Gefühlsregion folgen.
Les Héritières – die Erbinnen von Cheikha Rimitti
Cheikha Rimitti war für den Feminismus in Algerien, den Widerstand im Algerienkrieg und die Entwicklung der Raï-Musik generell die wohl wichtigste weibliche Schlüsselperson. Die Schaffenskraft der Frau war legendär – sie produzierte hunderte von Kassetten. Sie stand bis zur vor ihrem Tod auf der Bühne. Nun haben sich drei Diven aus der algerisch-französischen Musikszene – Souad Asla, Hadjila und Nawel Ben Kraïem – für ein eine Hommage an die grosse Sängerin und Komponistin zusammengetan.
Auf der Bühne, fast versteckt im Hintergrund, eine in diesem Liederbuch sattelfeste Band. Vorne am Bühnenrand drei Diven, die sich in Interpretationen von Songs aus eben diesem Liederbuch abwechselten. Ja, es war eine Hommage, aber keine grosse Verbeugung vor der algerischen Ikone, sondern eher eine Möglichkeit, sich selbst mit bekannten Songs ins Rampenlicht zu stellen, und dabei etwas Glamour zu erben.
Moonlight Benjamin – die Voodoo-Bluesrockerin fährt ein Brett
Von den ersten Tönen an ist klar: hier werden keine leisen Statements gemacht. Eine krachende Rockband liefert eine massive Klangwand, die von der kleinen Sängerin mit der grossen Stimme aber mühelos in Schach gehalten wird.
Die wirblige Frontfrau stellte hier in Marseille vor allem die Songs des neuen Albums «Wayo» vor. Kompakt, gekonnt, ganz auf die Sängerin abgestimmt, knallt sich die Truppe durch das Repertoire. Moonlight erstaunt einmal mehr: von Haus aus Jazzsängerin, hat sie eine der besten Rock-Bühnen-Präsenzen der Gegenwart. Auch wenn Rock laut sein muss/darf – es war ein bisschen des Guten zuviel … (das db-Messgerät wurde sicherheitshalber abgestellt) …
Alis Asghar Rahmini & Yasna Ensemble – Meditation mit Saiten
Bei diesem Konzert regiert nicht die Lautstärke, sondern die Suche nach Seelenfrieden. Wieder ist es die Sufi-Philosophie, welche durch die Saiten von Ali Asghar Rahimi und dem Yasna Ensemble zu Klang wird. Oder wenn Ali seinen Tambûr ruhen lässt und sein Bass-Bariton die Gedichte Melodie werden lässt.
Im kleinsten Konzertraum waren die Stühle schon lange vor Konzertbeginn besetzt. Nur zur Hälfte von Menschen mit weissem Haar, die andere Hälfte ist altersmässig durchmischt, bis ziemlich jung. Ein Anzeichen, dass das Festival es schafft, ganz unterschiedliche Publika zusammen zu bringen.
Nomadic Massive – fünfsprachiger Hip Hop aus Montreal
Sie sind ein rappender Spiegel des multikulturellen Montreal. Nomadic Massive singen und reimen in Englisch, Französisch, Kreol, Spanisch und Arabisch. Stilistisch bewegt sich die Truppe zwischen Raggamuffin und Old School Hip Hop. Drei Front-Rapper und zwei «Chor»-Rapper werden unterstützt von einer sehr funky aufspielenden Band, die ihre Frontleute stetig vorwärts schiebt.
Der grosse Saal der Docs du Sud ist sehr gut gefüllt – ich schätze mal etwas über 2000 Besucher*innen, und sichtbar erfreut sind über den Energieschub aus der Frankophonie von jenseits des Atlantiks.
Dwodelin – Kreolisierung ist das Ziel
Die Band aus Lyon hat sich zur Aufgabe gemacht, die musikalische Kreolisierung vorwärts zu treiben. Mit zwei Alben sind sie schon ziemlich weit damit gekommen: Grooves und Schmelz aus Guadeloupe und Martinique treffen auf NuSoul und geschmeidigen Jazz-Funk der 80er ud 90er Jahre.
Es ist manchmal etwas zu viel Hirn in den Arrangements der Truppe, zu viel Anstrengungen. Doch dann kommt Sängerin Olivya und rettet mit Charme und grandioser Stimme die Situation. Könnte sich die Band noch für etwas mehr Lockerheit entscheiden, wäre viel erreicht.
De la Crau – ein Rock-Urgestein der okzitanischen Sprache
Sam Karpienia ist so was wie ein okzitanischer Granit in der Brandung der Zeiten. Seit den 80er Jahren ist er mit Rock in verschiedensten Variationen, und politischen Meldungen in okzitanischer Sprache unterwegs. Sein aktuelles Bandprojekt, De la Crau, wird von einer jungen Rhythmus-Truppe mit Drang nach vorne angetrieben.
Sam selber ist die rockende Abgeklärtheit in Person. Er ringt, zuweilen ächzend, um Melodien, nutzt seine Mandola auch mal als Perkussions- und nicht nur als Saiteninstrument. Im Saal sind viele alte Freunde anwesend, werfen dem Sänger Song- und andere Wünsche auf die Bühne – es ist fast ein Familienfest.
Jinj – Armenien kann auch reimen und rocken
Sie nennen ihre Musik Armo-Beat, denn Jinj wurde in Armenien nach dem Krieg 2021 gegründet. Die ersten Songs lassen bald die Grundlinie erkennen: Schwere Beats, getriggert von einer harten Gitarre, eine Frontfrau die ebensogut in Französisch rappt, wie in Armenisch. Aber dann kommen Instrumente zum Einsatz, welche eindeutig aus Armenien stammen, und im Hip Hop und Rock sonst nie was zu suchen gehabt haben: Zurna und Duduk.
Gerade die Duduk, dieses stille, verträumte Instrument für schwebende Seelenreisen, erhält in dieser Formation ein ganz neues Klangumfeld. Und ja: die Aprikosenholz-Oboe kann sich gegen die lauteren Instrumente durchsetzten. Die Band ist in bester Spiellaune, der Einsatz von Elektronik mächtig, aber nicht übermächtig.
Yacko & Tuan Tigabelas – Indonesien schickt Rhymes und Beats
Die ersten Beats aus dem Rechner könnten gut und gerne auch an der amerikanischen Westküste entstanden sein, doch dann tauchen Gamelan-Klänge in den Loops auf. Die Herkunft wird hörbar. Vor dem DJ auf der Bühne liefern sich Yacko und Tuan Tigabelas erst ein gemeinsames Wortgefecht, bis sie sich dann mit ihren eigenen Songs abwechseln.
Während Tuan in Indonesien ein Hip Hop Top-Shot ist, ist Yacko eine Pionierin im Gegenwind. Frauen die rappen, sich gegen die patriarchalischen Strukturen auflehnen und Recht auf Selbstbestimmung einfordern, haben in Indonesien noch Seltenheitswert. Yacko ist die Heldin vieler junger Indonesierinnen.
Heute gibt’s den dritten Konzertabend der Babel Music XP, mit u.a. Al-Qasar, ein Mestizo-Sound gewachsen zwischen Paris, LA und Beirut, AySay aus dem hohen Norden, kurdische Melodien in Blues getaucht, und Deli Teli aus Griechenland – ein rechtes Stück weit weg vom Rembetiko.
Die Babel Music XP Übersicht
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