Der dritte Abend am Festival Babel Music XP bringt auf der kleineren Bühne in den ersten Auftritten leisere Töne aus Estland, Südkorea und Frankreich.
Auf der grossen Bühne sind die Töne härter, um einiges lauter, und sie kommen aus Marokko und Bosnien und zu Beginn einer bretonischen Sackpfeife, einer Biniou – offiziell übersetzt mit «alter Dudelsack». Wir starten den Abend, resp. diesen Rückblick aber mit Kantele und Loopstation.
Mari Kalkun
An der WOMEX 2019 hatte ich die Estin Mari Kalkun verpasst. Ihre Hauptinstrumente sind Kantele, Trommel, Keyboard und eine Loopstation. Ich habe noch ihr letztes Album «Stories from Stonia» im Ohr und erwarte ganz leise Songs. Doch ich werde von einem selbstsicheren Folkkonzert überrascht, mit einem sehr dynamisch aufgebauten Set und einer sehr präsenten Sängerin.
Die Looptechnik erlaubt es ihr, im Songaufbau erst die feineren Layers erst zu schichten, bevor sie dann die Leadmelodie, oft in der estnischen Form des Joiks darüber legt. Die Geschichten drehen sich fast ausschliesslich ums Werden und Vergehen – wobei das Werden, die Kreation im Vordergrund steht. Gegen Ende des Auftritts gibt’s sogar eine groovende Überraschung: im zweitletzten Song wird die Stehpauke zur Dancefloor-Beat-Maschine, die leise Kantele zur Schreddergitarre.
Tangui le Cras – Craze
Das zweite Konzert des Abends war eigentlich keines, sondern eine Klang-Performance mit dem Titel Craze. Tangui le Cras spielt eine Binoui, eine bretonische Variante der grossen Familie der Sackpfeifen, aka als Dudelsack. Klar kann das Teil Bordun-Töne spielen. Es ist quasi ein natürlich gebautes Loop-Instrument. Tangui le Cras, angezogen mit T Shirt und einer mönchsähnlichen Kutte dreht sich mitten im Publikum im Kreis, der Realität gewordene «Rattenfänger».
Er spielt mit der Melodieflöte minimale Tonschritte, lässt sägende Töne in ihre Oberton Frequenzen kippen; Trance-Musik. Die Sackpfeife, an sich schon ein lautes Instrument, wird zusätzlich auf’s PA übertragen, das Trommelfell leidet. Nach ein paar Minuten befürchte ich, dass es mir einzelne Frequenzen aus meinem Gehör rausfräst.
Dal:um
Der zweite Auftritt auf der kleinen Bühne in den Dock des Suds hatte mit den Nachteilen der Konzertplanung zu kämpfen. Diese richtete sich an diesem ABend vor allem an das junge Ausgehpublikum von Marseille – und wurde gegen Mitternacht auch dessen Anspruch an Schalldruck und fühlbare Sounds gerecht. Vor diesem Konzert jedoch hatte sich leider nicht herumgesprochen, dass ein leises Konzert keine Gesprächsrunde mit Background-Sounds ist.
Die beiden Zither-Spielerinnen aus Seoul mussten sich Aufmerksamkeit erkämpfen, was leider zu Ungunsten der Klangqualität ausfiel. Die beiden Zithern Gayageum und Geomungo ergänzen sich: die erste ist mehr auf Rhythmus und Basstöne ausgelegt, die zweite auf Melodie. Die Musik entsteht durch die absolute Synchronizität der beiden Zithern, resp. ihrer Spielerinnen – und durch die Pausen in den Melodien. Die gingen leider im Geschwätz des Publikums unter, resp. die Musikerinnen von Dal:um versuchten die Aufmerksamkeit des Publikums durch eine härtere Anschlagtechnik der Instrumente zu kompensieren; zu Ungunsten des Charmes dieser neuen Folk-Klänge aus Südkorea.
Bab L’Bluz
bandcamp, homepage
Auch das nächste Konzert stand nicht unter einem optimalen Stern: Lag es am Gig vom Abend zuvor, der immer weiter nach hinten verschoben wurde, und schlussendlich dem der Schlaf geopfert werden musste? Auf jeden Fall schafften es Bab L‘Bluz gerade noch zwischen Soundcheck und Konzert im Hotel zwei Stunden ins Kissen zu atmen. Eine Folge der daraus resultierenden Erschöpfung: das Konzert in Marseille wirkte etwas fahrig.
Wenn die komplexen maghrebinischen Rhythmen nicht wirklich auf den Punkt gespielt werden, beginnt die Songstruktur zu wackeln. Auch sind die Hauptinstrumente der Band – Bassist Brice Bottin und Leadsängerin und Songschreiberin Yousra Mansour spielen gerne moderne Varianten der Gimbri – trotz modernster Tontechnik keine einfachen Instrumente. Auch wenn die Band auf Rock setzt: ein gebrochener Rhythmus muss noch viel genauer gespielt werden, als ein einfacher 4/4. Die Band rettete sich in etwas zu bretternden Sound. Was wirklich klar und deutlich rüberkam, waren die politischen Statements, Stichworte Gaza und Ukraine. Hier fühlte sich Marseilles Jugend mehr zuhause.
La Mossa
La Mossa kommen aus diesem Teil des Mittelmeers (Italien / Frankreich) und sie pflegen eine Sprache, die hier im Süden Frankreichs noch zuhause ist: Okzitanisch. (Hör’ dazu auch den Podcast „Die okzitanische Sprache lebt in der Musik“) Doch die vier Ladies von La Mossa pflegen nicht nur die Welt des okzitanischen Liederbuchs, dem sie selber auch einige Songs beigesteuert haben. Mit dem wachsenden Repertoire kamen auch Songs aus dem weiteren Mittelmeerraum, aus Skandinavien und aus Übersee hinzu.
A Capella Gesang mit Perkussion ist, sehr vereinfacht gesagt, die Rezeptur ihres Bandklangs. Wobei die Stimmen auch einen Teil des Rhythmus’ bestimmen oder übernehmen. Es ist ein ausgeklügeltes Flechtwerk von Rhythmen und Melodien, das zwar aus Liedstrukturen stammt, aber sich darüber hinaus entwickelt hat. Die Stimm-Arrangements wagen sich auch in Dissonanzen, die Perkussions-Arbeit ist komplex und orchestriert. Und witzig – denn wer kann schon einen Song mit dem Inhalt des Einkaufskorbs machen? Abwechslungsreiche Arrangements und Stimmbänder in ausgefeilter Harmonie – ganz toll!
P.S. Wer im Westen der Schweiz wohnt hat Glück: auf ihrer aktuellen Frankreich-Tour machen die Ladies auch einen Abstecher in die Romandie: 2.5. Yverdon, 3.5.Vevey, 4.5.Biel – Facebook-Tourplan)
Divanhana
Zwar nutzen Divanhana den Genre-Beriff Sevdah für die Beschreibung ihrer kulturellen Herkunft, doch die Musik der Truppe hat nur noch ganz wenig mit dem als Sevdalinka bekannten Balkan-Blues zu tun. Der gemeinsame Draht zwischen der Vergangenheit und dem Heute sind wohl nur noch die Lyrics, denn hier wie dort reimen sich «Liebe und Triebe» bestens.
Im Interview erklärten mit die jungen Musiker, dass sie sich vor allem von den schweren, bluesigen Melodien verabschiedet haben und jetzt das machen, was junge Menschen eben gerne machen: Party feiern. So wird der Konzertsaal bald zur Festhütte, die Band gibt alles, um gute Stimmung aufkommen zu lassen. Dabei gehen die musikalischen Feinheiten etwas verloren, wenn Sevdah in die Nähe von Turbo Folk gerät.
Die Party-Nacht war somit eingeläutet, und auf dem Programm stehen noch diverse DJs, doch der Berichterstatter muss wegen einer aufziehenden Grippe das Handtuch werfen. Statt einem Drink gibt’s noch einen Tee, und statt frittiertem Tintenfisch eine Portion Chemie…
Die erste Nacht am Babel Music XP 2025
Die zweite Nacht am Babel Music XP 2025
Die dritte Nacht am Babel Music XP 2025
Ein kurzer Nachtrag: zu Beginn der Reportage erwähnte ich das Ende des Kultur- und Konzertorts «Dock des Suds», quasi dem Heimathafen des Festivals. Mittlerweile ist die technische Infrastruktur abgebaut, die Abrissbirnen und Bagger dürften demnächst auffahren. Was aus dem Grundstück werden soll bleibt offen. So funktioniert Marseilles Kulturpolitik…
Auf jeden Fall aber wird das Festival Babel Music XP auch nächstes Jahr stattfinden: 19. bis 21. März 2026.
