Erste Nacht bei Babel Music XP 2025

Das Festival Babel Music XP in Marseille kämpft, einmal mehr, um’s Überleben. Diesmal geht es weniger um’s Geld, sondern um die Spielstätten. Die «Heimat» wird abgerissen. Doch das Festival lebt ja durch Musik, nicht nur dank der Infrastruktur. Und es gab einige Überraschungen!

Das «Dock des Suds» waren rund 30 Jahre lang die Heimat vieler kulturellen Veranstaltungen in Marseille, allen voran von Konzerten. Denn die ehemalige Zuckerrohr-Lagerhalle verfügte über einen Saal mit einem Fassungsvermögen bis zu einigen Tausend Besuchern, und eine kleinere Bühne für rund 500 Konzertgängerinnen. Zudem einen grossen Hallenbereich, der für Ausstellungen, Messen oder Platz genug für eine zusätzliche Bühne. Kurz: Das Dock war ein kultureller Treffpunkt.

Die Stadtentwicklung Marseilles „vergass“ während der letzten zwanzig Jahre, diesen Ort in die Planung und den Ausbau dieses Stadtteils einzubeziehen. Mittlerweile ist das alte, marode Gebäude sichtbar am Ende seines Lebenszyklus’ angekommen. Die Gentrifizierung des Quartiers hat mit seinen Wohn- und Bürotürmen zudem die alte Halle umzingelt.

Im Jahr 2013 war Marseille einer der Kulturhauptstädte Europas. Millionen flossen aus den Schatullen von Paris nach Marseille, mit dem Anspruch, die zweitgrösste Stadt Frankreichs mit viel Kultur zu beglücken. Was die Bewohner stinksauer machte, denn erstens ist Marseille die älteste Stadt des Landes, und, noch wichtiger, ist das Mittelmeer der formende Raum aller europäischen Kulturen.

Eine dieser „Beglückungen“ aus Paris war die Kommerzialisierung des alten Hafens und seiner Lagergebäude, eine ganze Reihe von Museen und Hotels, eine durchgehende Promenade zwischen dem alten Hafen im der Altstadt Marseilles und dem neuen Quartier La Vilette (auf der Karte der violette Stadtteil).

Das Dock gingen „vergessen“, resp. niemand dachte daran, einen Ersatz für dieses Kulturzentrum zu planen und zu finanzieren. Mit dem Ergebnis, dass das Dock rund eine Woche nach Ende des Festivals Babel Music XP, abgerissen wird, und kein ebenbürtiger Ersatz in Marseille vorhanden ist. Es gibt Konzertsäle, aber nicht mit diesem variablen und/oder grosszügigen Saal- und Platz-Angebot.

Festival-Direktor Olivier Rey

Doch die Veranstalter geben nicht auf. Selbst die Vertreter von Stadt, Region und Kulturverbänden sprechen von einer Zukunft für das Festivals. Und von der Wichtigkeit eines kulturellen Schwerpunkts und Festivals innerhalb dieser Multikulti-Stadt mit all ihren Ethnien und Kulturen. Nur: Niemand weiss, wie die Zukunft gestaltet, geschweige denn finanziert werden kann. (Ein später erscheinender Podcast mit Festivaldirektor Olivier Rey wird das Dilemma im Detail beschreiben.)

Ablaye Cissoko & Cyrille Brotto

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Der erste Konzertabend ist denn auch so was wie ein Testbetrieb für ein dezentralisiertes Konzertangebot. Wir beginnen in der Cité de la Musique mit einem Konzert von Koravirtuose Ablaye Cissoko mit dem Akkordeonisten Cyrille Brotto. Die beiden sind seit einigen Jahren gemeinsam unterwegs. Brotto erklärt das klanglich bestens funktionierende Zusammenspiel der beiden Instrumente so:

Das Akkordeon ist ein „flächiges“ Instrument, es kann lange Bordun-Töne erzeugen. Die Kora ist ein akzentuiertes Instrument, gemacht für kurze Töne und Arpeggien.

Die dem Konzert vorausgehende Gesprächsrunde war dann schlussendlich anregender als das Konzert selber. Die beiden Instrumente harmonieren wirklich bestens, die beiden Musiker hören sich gut zu, gehen aufeinander ein, lassen sich auch genügend Freiräume für Improvisationen. Insgesamt jedoch hinterlässt das Konzert den Eindruck von gepflegter, aber langweiliger Harmonie. Es ist alles zu glatt, zu wohlklingend. Dynamik und Reibung kommen nicht auf.

 

ExpéKa

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Zum nächsten Konzertlokal dauert der Fussmarsch gute 20 Minuten – Hügel runter, Hügel rauf. Der Espace Julien ist ein Konzertlokal im Quartier mit den meisten Graffitis von Marseille; auch dies ein ehemaliges Industriegebäude.
Das Lokal ist mit rund 200 Menschen bereits gut gefüllt. Auf der Bühne ExpéKa, eine Truppe mit gemeinsamer Herkunft aus den französischen Überseegebieten Martinique und Guadeloupe. Der Leim der Truppe ist ein dichter Perkussion-Teppich, geknüpft unter Anleitung von Drummer Sonny Troupé, ergänzt durch ein angefunktes Bass/Keyboard/Gitarren Trio. Die Energie steckt in den Wortkaskaden, angesiedelt zwischen Rap und Call-Response-Poesie, vorgetragen von den beiden Frontleuten Casey und Célia Wa. Die ganze Band übernimmt die Chor-Arbeit. Die Instrumente setzen Farbtupfer in den Wortschwall. Die Querflöte ist nicht unbedingt mein Lieblingsinstrument, aber hier setzt sie gut platzierte Farbtupfer. Community-Rap-Poesie.

Die Raps sind nicht so überdreht, dass man den Text nicht verstehen würde. Zumindest die Passagen in Französisch, bei den Kriol-Passagen fehlt mir dann das Vokabulaire. Die Themen der jungen Generation sind auch die Themen ihrer Eltern und Grosseltern: Kolonialisation und Sklaverei hat viele Gesichter und Geschichten. Libertė ist immer (noch) der grosse Wunsch.

 

Jawa

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Ortswechsel: 15 Minuten Fussmarsch wieder runter in die Stadt, in die Bibliothek Alcazar. Die besitzt im Untergeschoss einen kleinen Konzertsaal, Fassungsvermögen rund 250 Besucherinnen. Auf der Bühne spielen Jawa. Belgien ist ihre Bandbasis, doch die Musiker wohnen auch in den Nachbarländern. Die Gruppe rund um den Sänger Khaled Alhafez hat sich der Sufi-Tradition aus Syrien verschrieben, genauer: aus Aleppo. Vom Krieg aus ihrer Heimat vertrieben pflegen die Musiker das Andenken und die Erinnerung an jene Musik, die sie einst von ihren Lehrern mündlich überliefert, und dann in die Diaspora mitgenommen hatten.

Neben Geige, Flöten und Perkussion wird der Bandklang dominiert von Kanun, Oud und Gesang. Zentral ist auch der sich wiederholende Auftritt des Tänzers, der in der Tradition der drehenden Derwische seine Kreisel dreht. Insgesamt ein Auftritt, der die Tradition ehrt, ohne aber übermächtig viel Patina zuzulassen.

Bitoi

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Ich entschliesse mich, nicht wieder das Lokal zu wechseln, verpflege mich in einem der vielen magrebinischen Restaurants im Quartier, und bin rechtzeitig wieder zurück im Alcazar für den Auftritt von Bitoi.
Der äthiopisch-schwedische Bassist Cassius Lambe und seine drei Sängerinnen aus unterschiedlichen skandinavischen Ländern pflegen ein ziemlich ausgefallenes Konzept: die Umsetzung eines Buches mit phonetisch niedergeschriebenen Vogel-Melodien, neu, resp.rück-vertont mit menschlichen Chorstimmen. Der Bass, die Klanghülle für die Stimmen, ist eine Spezialanfertigung, bei dem die Bünde in Viertelton-Schritten eingesetzt wurden: Ein Kompromiss zwischen der Maqam-Technik des Nahen Ostens und den Klangsuchern der Neuen Klassik.

Das klingt in der Beschreibung etwas gar intellektuell und abgehoben, entwickelt in der Live-Situation jedoch einen speziellen Charme. Das Konzert ist eine Mischung zwischen Performance und Klangsuche, eine gut geordnete und arrangierte Improvisation – die eigentlich keine ist – auf der Suche nach neuen Klanggebilden. Es ist kein Wohlfühl-Konzert, denn der Zuhörer kann nur dann diesen Klängen etwas abgewinnen, wenn er sich ihnen vorbehaltlos aussetzt. Ist es world music, oder globalsounds? Nicht im eigentlichen Sinne. Eher Musik, die sich frei genug fühlt, sich zwischen sämtliche Stühle zu setzen.

 

Die erste Nacht am Babel Music XP 2025

Die zweite Nacht am Babel Music XP 2025

Die dritte Nacht am Babel Music XP 2025

 

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