Ein dritter Tag der Überraschungen bei Les Suds à Arles: mal umgekehrt assimilierte Franzosen, Hirtenmelodien aus den Pyrenäen, viel Zucker und Nostalgie dank Dalida, und einen etwas geschwätzigen Spanier.
Weil ja diese Posts auch geschrieben werden wollen, habe ich eines der Konzerte am Morgen in der Croisiére verpasst. Glücklicherweise kamen Dina Mialinelina und Rija Randrianivosoa für einen kurzen Besuch am Mittag zur Tagesübersicht in den Van Gogh Garten. Die Gitarre im hüpfenden Valiha-Stil, die Stimme strahlend und selbstbewusst.
Weiterführende Links
Auf dem Platz Voltaire sitzen am späteren Nachmittag Ouled El Bled, heisst übersetzt: Kinder des Landes. Nur einer der vier MusikerInnen kann sich auf eine marokkanische Herkunft berufen. Die anderen drei wurden über die Jahre assimiliert, vom Land und der Landschaft Marokkos, von der Kultur, von der Musik.
Weil man seine Gefühle am besten über Musik ausdrücken kann begannen die vier Lieder zu schreiben. Das Konzert war also kein Blättern im traditionellen marokkanischen Liederbuch, sondern ein Kennenlernen durch die Augen von Reisenden. So hatte die Tradition bis heute noch kein Loblied auf die vielen Busfahrer verfasst, welche mit ihren Vehikeln die Transporte bis in die Berge und Oasen garantieren.
Um die alte Diskussion von der kulturellen Aneignung nicht wieder anzufachen: Ouled El Bled kupfern nicht ein Liederbuch ab, sie bewegen sich als Fans, Freunde und Reisende auf eine Kultur zu – und sind mittlerweile so tief eingedrungen, dass ihre Musik als „von dort“ wahrgenommen wird.
Weiterführende Links
Ganz anders beim Einnachten im Hof des Erzbischofs das Quartett Haratago. Hier war eine Tradition zu hören, die sich auf direkte Überlieferung stützen kann. Der Ideegeber des Quartetts, Julen Achiary, hat viele Melodien noch direkt von seinem Vater gelernt. Es sind Melodien, die von den Hirten in den Hochweiden der Pyrenäen gesungen wurden. Wortlose Melodien, um die Welt zu besingen, eine Welt, die eigentlich nur aus Umwelt bestand: Berge, Tiere, Wetter, Himmel. Doch wer oft draussen ist weiss, dass man in solchen Momenten gerne mit der Welt spricht, resp. singt. Solche Lieder sind das.
Den Sänger und seine Begleiter hat es dann melodisch auch in entferntere Berglandschaften gezogen, bis nach Aserbaidschan. Julens Mitmusiker kommen aus der traditionellen Musik oder aus dem Jazz, Improvisation ist Teil ihres Könnens. Es ist keine Musik, die einen sofort hereinlässt. Ich sehe und höre diese Formation jetzt zum dritten Mal (WOMEX 23, Babel Music 24) und finde erst hier in Arles, einen Zugang zu dieser Musik der Weite, Kargheit und Freiheit.
Weiterführende Links
Für den ersten Teil des Abendprogramms im alten Theater durfte man nicht zuckerkrank sein, denn die Süsse von alten Chansons aus den 60er und 70er Jahren wurde kübelweise verteilt. Die Sängerin Barbara Pravi hatte sich für ein Fernsehprojekt das Liederbuch von Dalida zurecht gelegt. Wer auch nur ein bisschen Chansons-affin ist, und den richtigen (sprich: etwas älteren) Jahrgang hat, erkannte alle die alten Melodien spätestens beim Refrain wieder, und begann sofort mitzusummen: Bambino, Parole…Parole, Il venait d’avoir 18 ans, …Laissez-moi danser, Mourir sur Scène – alles Lieder, die sich über die Jahre tief in der französischen DNA verankert haben.
Barbara interpretierte die alten Ohrwürmer mit Respekt, aber ohne falsche Patina. Keine Orchester-Fülle rund um die Melodien, sondern ein Gypsy-Quartett, und eine gute Songauswahl. Denn die Lieder mögen schon Jahrzehnte auf dem Buckel haben, das Grundthema ist ewig: die Liebe in all ihren Facetten. Vom verschämtem Blick, die erste Berührung, der erste Kuss, das sich Fremdwerden, Abschied nehme oder die Türe hinter sich zuwerfen. Und die Tränen, das Herz bricht.
Das Publikum sang fast jedes Lied mit, und jene, die sich nicht mehr an den Text erinnern, summen ihn mit.
Weiterführende Links von Barbara Pravi
Beim nächsten Künstler ist die Musik auch wichtig, aber sie ist eher ein roter Faden, nicht Zentrum des Auftritts. Rodrigo Cuevas ist ein Entertainer, und er füllt seine Bühnenshow zur Hälfte mit Dialog-Spielen mit dem Publikum. Gibt vor, schlecht Französisch zu können, lässt sich korrigieren, spielt mit den Worten. Der Auftritt ist alles was zählt. Und der direkte Kontakt mit dem Publikum: Vom Auftritt durch die Zuschauer, bis zum wiederholten Bad in der Menge während des Konzerts.
Alles ist Konzept. Das beginnt schon bei der Aufstellung der vier MusikerInnen seines Orchesters. Sie sind alle in schwarzen Boxen versteckt, und er stellt sie auch am Anfang des Konzert als seine vier Kandidaten vor, wie in einer Quizshow. Show ist alles. Es gibt keinen Quiz, nur sehr viel mitfieberndes Studiopublikum. Konzept ist auch die bewusste Provokation des Publikums, sein mitunter übertrieben tuntiges Auftreten.
Die Songs von Rodrigo haben durchaus Ohrwurm-Charakter, würden dabei aber vielleicht ohne Showblocks (inkl. Kostumwechsel) ihre Nähe zum Schlager verraten. So war es auch nicht erstaunlich, dass Rodrigo Cuevas als eines seiner letzten Stücke ein Lied von Dalida auswählte. Für die Fans konnte das Konzert nicht lange genug dauern, doch die Ränge lichteten sich zunehmend.
Weiterführende Links
Gesamtüberblick Les Suds à Arles 2024