Polyphonie, Forro, unterdrückte Schreie aus Palästina, Rhythmen aus Rechner, Tasten, Bambus – der vierte Abend bei Les Suds à Arles übte den grossen Spagat.
Mein Tag begann mit Kyma, einer Frauengruppe aus der Region, die ein a capella Repertoire mit Melodien zwischen Indien und Brasilien pflegen. Und immer wieder Melodien aus dem reichen Fundus der Region dazwischen setzten.
Manchmal platzten die jungen Sängerinnen beinahe vor Enthusiasmus, blieben umgekehrt aber selbst bei kritischen und komplexen Arrangements die Ruhe selber. Sehr sympathisch.
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Les Suds sind nicht nur ein Musikfestival. Es gibt rund 40 Workshops, es gibt Filme, Diskussionsgruppen, Live-Radiosendungen mit Experten zu Themen zwischen Geschichte, Politik und Sozialthemen. Jeweils mittags wird auf das vollständige Programm aufmerksam gemacht. Heute mit dem Besuch aus dem Workshop mit Anton Bacon. Er gab auch gleich ein Beispiel seines Workshop-Themas: Wie arrangiere ich einen Walzer harmonisch und rhythmisch interessant für die Tanzfläche. Nicht die im Club, die auf dem Dorf, im Festzelt.
Ein Hinweis auf den Film von Miguel Octave, der die ganze Geschichte der Musikproduktion in einem weiten Teil der französischsprachigen Karibik nacherzählt: Studio Debs.
Auch gab es einen akustischen Wegweiser zu einer Neuerung im Programm: es gibt ab sofort ein Nachtprogramm. Ein neues Club-Angebot, mit DJs und Live-Auftritten. Heute mit Twende Pamoja, das neue Projekt des rührigen Produzenten Théo Ceccaldi und zwei Rapperinnen aus dem momentan heiss gehandelten Musik-Biotop von Kampala, Uganda: Nyege Nyege. Weil das digitale Umfeld nicht einfach transportierbar ist, setzten sich der Initiant Théo und die Gospel-workshop Leiterin Emma Lamadji für eine kurze Improvisation zusammen. So funktioniert das hier in Arles.
Wer noch mehr über das Festival erfahren möchte, vor allem darüber, wie es begann, sei an ein Podcast-Gespräch mit der Gründerin und Leiterin des Festivals, Marie José Justamond, verwiesen.
Gegen Ende des Nachmittags war auf dem Platz Voltaire bei Rita Rita das Tanzbein gefragt. Rita Macedo, ihr Akkordeon und ihre Mitstreiter waren im Partymodus. Forro und andere Rhyhtmen aus den Nordosten Brazilians waren angesagt.
Rita ist ein Energiebündel, schiesst fast atemlos ihre Melodien und Wortkaskaden ab. Ein sehr funky gestimmtes Saxophon ergänzt sie in Sachen Melodie. Der Gitarrist ist ein schwankender, harmonischer Zufallsfaktor, mal punktgenau, manchmal schön und haarscharf schräg daneben.
Und hinten, an einem doppelten Schlagzeug – seltene Aufstellung – wuchten zwei Schlagwerker die Band vorwärts. Festlaune, strahlende Gesichter, rundum Gelächter.
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Homepage, Spotify (Rita Macedo)
Beschaulicher beginnt der Abend mit Kamilya Jubran und Sarah Murcia. Ein neuer Spielort ist zu entdecken: Les Alyscamps, eine Parkanlage auf dem Territorium eines ehemaligen römischen Friedhofs.
Die palästinensische Oud-Spielerin Kamilya Joubran singt ihre Lamenti anfänglich in leiser Zurücknahme. Je weiter das Konzert voranschreitet, umso deutlicher wird der Schmerz in ihren Melodien hörbar – und wird seltsamerweise später durch Humor und Sprachwitz etwas gemildert.
Das Zusammenspiel von Oud und Bass bewegt sich meistens in sehr freien Bahnen. Umso enger und intensiver aber dann, wenn es darum geht, einzelne Stakkato-Wortkaskaden zu begleiten. Das Konzert hinterlässt bei mir kein musikalisches Echo, sondern ein Gefühl von Verlorenheit und Trauer.
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Der Abend im antiken Theater ist auf Beats getrimmt. Angesagt ist zuerst der Digital-Pionier und Techno-DJ Jeff Mills. Er trifft auf den Jazzpianisten Jean-Phi Dary und den Meister der Tablas Prabhu Edouard. Sie passen gut zusammen, die digitalen Rhythmus-Pattern aus dem Rechner und die analogen Improvisationen an den Tasten und auf den Tablas. Jeder der Instrumentalisten bereit, sich auf alles einzulassen, was sein Kollege ihm zuwirft. Denn die Devise des Konzerts bringt Mills kurz und bündig auf die Formel:
Our plan is to have no plan
Jeff Mills kramte ständig neue Rhythmus-Pattern aus seinen Speicher-Geräten. Er ist es auch, der für die Dynamik innerhalb des Sets verantwortlich zeichnet, gibt Tempi vor oder lässt die Grooves auch wieder zusammensinken.
Jean-Phi Dary legte mit seinen Tasteninstrumenten eine Melodie um die andere in die Rhythmen. Er bringt mit seinen repetitiven Melodie-Bruchstücken so was wie eine Stabilität in die Impro-Bausteine seiner Kollegen.
Prabhu Edouard kann rhythmisch beide Welten verbinden. Er stellt den Techno-Rhythmen seine wirbligen Tabla-Figuren gegenüber. Als Sänger glänzt er sowohl mit seiner Tabla-geschulten Rhythmus-Sprache Konnakol, als auch mit rhythmusfreien Melodie-Schlaufen – eine singende, lebendige Loop-Maschine.
Das alte Theater in Arles verwandelte sich nach und nach in einen Dancefloor. Die Devise war: mehr BPM + mehr Subbässe = mehr Bewegung. Trance konnte in dieser kurzen Zeit kaum aufgebaut werden, aber der Groove stimmte. Da konnten auch zwei etwas übereifrigen jungen Ladies, welche tanzend die Bühne entern wollten, die Musiker nicht aus dem Takt bringen. Höchstens ganz kurz den Ordnungsdienst.
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zu Jeff Mills
zu Jean-Phi Dary
zu Prabhu Edouard
Einen Mitschnitt eines anderen Auftritts der drei Musiker gibt’s auf YouTube.
Makoto San aus Marseille konnten die Tanzlaune des Publikums in gut angewärmten Zustand übernehmen. Das Quartett bot ein sehr gut getaktetes Spektakel. Von Makoto Yabuki, dem japanischen Meister und Leiter des Bamboo Orchestra geschult, haben die Vier aus Marseille die Möglichkeiten ihrer vielfältigen Bambusperkussion auf den Dancefloor transportiert.
Die Hauptinstrumente klingen irgendwo zwischen einer Marimba und einem reinen Perkussionsinstrument. Es gibt eine erstaunliche Bambus-Rüttel-Rassel-Zither, Bassröhren, und – ganz ohne Bambus – ein Metallxylophon, geschlagen mit Hämmerchen.
Die Grundsounds und der stampfende Bass liefert der Rechner, die Perkussionisten legen die Rhythmen über die Beats. Das tönt einfach, kann aber sehr trickreich werden, wenn sich die Rhythmen überlagern, wenn gleichzeit ein 6/8 und ein 4/4 gespielt werden. Das braucht Konzentration und Präzision in den Händen. Die haben die Jungs von Makoto San.
Dazu kommt eine Bühnenchoreografie wie aus einem Sci-Fi-Videoclip. Spektakulär in den ersten Stücken, beginnt es auf die Dauer etwas mechanisch zu klingen. Für die erwünschte Trance müssten wohl vor allem die Rechner-Spuren im Hintergrund etwas von der Technoschiene abrücken, denn sonst wird die ganze Sache, trotz visuellen Spektakel, zu motorisch.
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Der Auftritt von Twende Pamoja weit nach Mitternacht konnte mich nicht überzeugen. Die beiden Rapperinnen aus Nigeria und Tanzania wuchteten ihre Wortkaskaden zum Klanggewitter von Geiger Théo und Techno-Schrauber Faizal Mostrixx zwar gekonnt über den Bühnenrand. Doch der Auftritt war mehr eine Übertragung von Energie und weniger ein musikalischer Anlass.
Gesamtüberblick Les Suds à Arles 2024