Es ist von Vorteil, wenn man Vinicio Capossela schon mal live gesehen hat. Zumindest sollte man viel Vorstellungskraft für diese Lieder mitbringen.
Denn was uns Vinicio Capossela hier vorlegt ist eine Moritatensammlung, eine bunte, zuweilen groteske Vermummung aktueller Beobachtungen. Capossela beschreibt dies im Booklet so (frei übersetzt):
Es sind Balladen über Tiere und Menschen, die in Zeiten der neuen Seuchen geboren wurden. Balladen die entstanden sind, um die grosse Seuche, die Pest, zu vergessen, und gleichzeitig dazu beitragen, Antikörper gegen die neuen Seuchen zu bilden.
Die allegorische Verwandlung von heutigen Beobachtungen in tierische Beschreibung hat sicher auch damit zu tun, dass sich Capossela intensiv mit dem «Bestiario d’Amore» von Richard de Fournival beschäftigte (siehe Rezension gleich nebenan). Natürlich wird die Pest besungen. Doch auch Oscar Wildes Gedanken über die Kerker von Reading werden zitiert, oder ein Gedicht von John Keats. Er lässt die Bremer Stadtmusikanten auftreten, oder zitiert das Testament eines Schweins. Der Werwolf hat seinen Auftritt, und in der «Giraffe von Imola» beklagt sich einen panischer Italiener: «Rufen Sie die Polizei, holt sie weg. Immer diese Ausländer ohne Aufenthaltes-Erlaubnis.» Dann geht die Giraffe über den Zebra-Streifen…
Capossela verwandelt diesen Allegorien in theatralische Kompositionen. Es sind keine Lieder zum nachsingen, mehr klingende Bühnenbilder, vor denen der Sänger seine Texte zitiert, deklamiert, mit grossen Gesten darbietet. Wenn der heilige Antonius erneut in Versuchung gerät mischen sich mittelalterliche Harmonien und Punk-Hektik, und wenn das Schwein zum Schlachthof geht, dann tanzt es eine Tarantella. Die Instrumentierung reicht von der akustischen Gitarre, der nachdenklich schlendernden Pianomelodie, bis zum voll ausholenden Orchester.
Ein verwinkeltes Album, diese Alltags-Beobachtungen eines wachen Auges verwandelt in Allegorien, umgesetzt in theatralischen Arrangements; sperrig, witzig und herausfordernd.
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