Der Auftakt zum ersten vollen Konzertabend beginnt schon am Mittag, denn an jeder WOMEX sind auch über Mittag zwei Showcases im Programm.
Aysannabee
Den Auftakt an der diesjährigen WOMEX macht Aysannabee, Songwriter aus dem Stamm der Oji-Cree. Er ist der erste indigene Musiker, der mit Kanadas wichtigstem Preis, dem JUNO-Award, als Künstler des Jahres ausgezeichnet wurde. Im Konzert zeigte sich, dass er als Geschichtenerzähler berührender ist, als als Musiker.
Jeder Song basiert auf einer Lebenserfahrung, und die ist oft spannender und farbiger, als wenn Aysannabee sie dann in Melodien fasst.
Pelkkä Poutanen
Gäbe es einen Pechvogel-Award, er ginge dieses Jahr an die finnische Digital-Produzentin und Songwriterin Pelkkä Poutanen.
Wer auf der Bühne abhängig ist von digitalen Maschinen, wer vor allem mit Loops arbeitet, hat immer einen lauernden Gegner im Nacken: Stromausfall. Gleich zwei Male während des Auftritt von Pelkkä Poutanen schlug dieser Gegner zu. All die Loops, welche die Kehlkopfsängerin / Sängerin / Lautmalerin aufgebaut hatte, waren weg, verloren. Die Finnin meisterte die Situation jedoch souverän und höchst professionell, aber der Spannungsbogen des Auftritts wurde zwei Mal gnadenlos zerbrochen.
Der Grund wurde später bekannt: Ein Videofilmer, der Zutritt zur Bühne hatte, trat zwei mal sehr unglücklich auf die Stromzufuhr zu den Geräten….
Amy Laurenson
Der Abend begann dann ohne Pannen, aber auch mit deutlich weniger Spannung.
Die Pianistin Amy Laurenson versuchte, eine Türe aus der Klassik hin zur irischen und schottischen Folk-Musik aufzustossen. Rein technisch gesehen gelang ihr das auch: sowohl sie wir ihre Mitstreiter verfügen über hohes handwerkliches Können.
Doch die Songs wollten nicht aus dem handwerklichen Perfektionstreben der Musikerin ausbrechen, konnten nicht frei atmen. Und das hätten die Melodien gebraucht.
Katarina Barruk
Der Joik der Samen lebt in seiner Philosophie dank einem direkten Draht zur Natur. Die Umsetzung von Joiks in eine digitale Landschaft ist das Ziel der Sängerin Katarina Barruk.
Seltsamerweise nutzen viele Musikerinnen und Musiker aus dem Volk hoch oben in Skandinavien digitale Klänge als Grundlage für ihre Joiks. Katarina Barruk machte daraus gleich eine ganze Multimedia-Welt – und lenkte dadurch von der Musik ab. Sie wurde „nur“ noch Teil einer digitalen Grossinszenierung. Es mag auch daran liegen, dass der rasende Reporter und Berichterstatter nur kurze Zeit in dieser audio-visuellen Welt verbringen konnte. Einen direkten Draht zur Klangwelt von Katarina Barruk fand er nicht.
Er wird aber zuhause sich mal Zeit gönnen und den besten Kopfhörer, um in diese Klänge einzutauchen.
Casapalma
Casapalma, das Duo aus dem Norden Spaniens genoss von mir hohe Vorschusslorbeeren.
Ihre erste Produktion «Montanesas» hatte mich schon im Frühling überzeugt. In der Konzertsituation-Situation geschah dann seltsames. Der Live-Auftritt überzeugte, aber raubte den Songs auch einen Teil des Charmes. Denn wo früher meine Vorstellung Geschichten und Schauplätze um die Melodien baute, standen jetzt zwei reale Menschen im Raum.
Die Songs waren plötzlich physischer, ich musste von meiner Imagination Abstand nehmen. Nicht einfach.
Barrut
Die achtköpfige a capella Truppe hatten mich schon im Frühjahr 2023 am Babel Music XP in ihrer Heimatstadt Marseille überzeugt.
Sorgfältige Arrangements, tolle Stimmen und gekonnt, weil sehr gezielt eingesetzte Perkussion. Vielleicht ist der Auftritt der Truppe ein bisschen zu statisch, denn ausser den Stimmen und Perkussion passiert auf der Bühne nicht viel.
Ein bisschen Bewegung in der Darbietung wäre vielleicht noch eine Überlegung wert.
An diesem Punkt des Abends zeigte sich zum ersten Mal, dass die Lage der Spielorte nicht optimal war. Das Konzertprogramm der WOMEX 2024 kannte zwei Spielorte: am einen, den Aviva Studios, standen drei Bühnen zur Verfügung. Der zweite Standort, mit der Albert Hall und der Central Station, ist zu Fuss mit einem Spaziergang von ca. 20 Minuten erreichbar.
Das ist nicht weit, reisst aber Löcher in den nahtlosen Ablaufplan und verursachte, dass dieser rasende Reporter in viele Konzerte nur ganz kurz reinschauen konnte, wenn überhaupt. Als erstes musste er das Konzert des Orchestra Baobab auslassen. Deshalb standen als nächstes keine Musiker aus dem Senegal, sondern Japanerinnen aus Berlin auf dem Konzertplan.
Mitsune
Zwei Japanerinnen, die mit ihren Shamisen in Berlin gestrandet sind und sich dort durch einen Bassisten und einen Perkussionisten rhythmische und klangliche Unterstützung geholt haben.
Es ist nicht ganz klar auszumachen, was auf das anwesende Publikum anziehender wirkte: die ziemlich exotischen Bühnenkostüme, oder der musikalische Auftritt. Der war etwas schrill und ziemlich theatralisch. Besondere Aufmerksamkeit genoss jeweils der Perkussionist, wenn er mit seinem Sammelsurium von Rasseln, Klangschalen, Spielzeugen und seltsamen Klangkörpern zu einem Soloausflug ansetzte.
Viel Exotik und Musik, die für Viele nicht aufschlüsselbar ist.
Strange Boy
Eine eher sperrige Kombination aus einem traditionellen irischen Instrumental-Quintett und einem rappenden Frontmann boten dann Strange Boy.
Wobei man auch sagen könnte, dass es ein sprach-technisch sehr ausgefeilter, 45-minütiger Monolog war, mit etwas zurückhaltender, musikalischen Begleitung. Denn der Rapper moderierte, kaum war der eine Song fertig, nahtlos zum nächsten Song. Und von der Zwischenmoderation ging’s fast ohne Atempause direkt in den nächsten Song. Mit dieser Dauerpräsenz des sprechenden Frontmanns wurden die Instrumentalisten in den Hintergrund gedrängt, und fanden auch im Sound-Mix selten mehr Gewicht.
Handwerklich wäre von ihnen einiges zu hören gewesen, aber sie wurden vom Wortschwall einfach überspült. In meinen Ohren nicht sehr ausbalanciert.
Rei
Auch in Neuseeland wird gerappt, und zwar mächtig. Damit der Maori-Rapper Rei nicht ganz allein gegen die Sounds aus der Maschine antreten muss, begleiten ihn zwei Tänzerinnen.
Doch es bleibt nicht bei der Wortkaskade allein, Zwischendurch setzt er für eine oder zwei Strophen zu Melodien à la Jack Johnson an, doch lässt Rei gleich anschliessend die süssen Pazifik-Harmonien wieder zerfallen und setzt zu einem neuen Wortfeuerwerk an. Einige der Tanzeinlagen waren von der Haka Tradition der Maori beeinflusst.
Zu selten setzt der Wortakrobat auf die Reggae-Grooves, die ihm vor allem in seinen Kollaborationen mit andern neuseeländischen Künstlern auf Spotify Hundertausende von Streams einbrachten.
Cristina Clara
Denkt man an Songs aus Portugal, assoziiert man (vor)schnell: Fado. Cristina Clara entführt mit ihren Liedern aus Portugal hinaus, über die Kapverden bis nach Brasilien.
Fado kann ein zu enges Korsett sein, zumindest ist es so für die quirlige Sängerin aus dem Norden Portugals. Unterstützt von einem Quartett von exquisiten Instrumentalisten holt sie ihre Zuhörerinnen und Zuhörer aus der Welt des Fados ab. Doch dann geht es in die Welt der kapverdischen Morna, oder über den Ozean in die leichtere, fröhlichere Welt der brasilianischen Choro. Die Mischung aus Harmonien, die einst aus Europa ihren Weg nach Südamerika gefunden hatten, und afrikanischen Rhythmen, die mit den Sklaven nach Amerika gekommen waren, sind Cristina Claras neue musikalische Lieblings-Heimat. Doch der Fado gerät nicht in Vergessenheit.
Es ist schön, wenn man zwei ganz unterschiedliche musikalische Heimaten hat. Das Publikum bedankte sich in Manchester mit einer standing ovation.
Sarab
Zorniges Aufbegehren dann von Sarab, einer syrisch-französischen Truppe um die Sängerin Climène Zarkan.
In Sarab treffen arabische, lyrische Töne auf harte Gitarrenriffs. Melodien aus dem Nahen Osten starten vielleicht in einer leisen Klage, bevor sie dann in harte Anklage übergehen. Musikalisch schöpften die beiden Gründungsmitglieder der Band, die Sängerin und ihr Gitarrist Baptist Ferrandis ursprünglich aus dem Repertoire des Vaters der Sängerin, dem Oud-Virtuosen Bachar Zarkan. Weiteren Band-Musiker kamen dann eher aus der jazzigen und rockigen Ecke, und dementsprechend wurde auch der Mix lauter, härter, fordernder.
Ein musikalisches Zerrbild der momentanen Situation im Nahen Osten.
Rioghnach Conolly & The Honeyfeet
Letztes Jahr war Rioghnach Conolly an der WOMEX 2023 mit ihre Duo Partner Stuart McCallum und ihrem Projekt «The Breath» zu Gast. Dieses Jahr brachte sie eine Soultruppe mit.
Nach den ersten Songs dachte ich mir: Ist das eine Weiterführung der irischen Film-Cover-Band «The Commitments»? Nein! Doch die Gussform der Songs stammt ziemlich genau aus dieser musikalischen Ecke: Soul und R&B-Strukturen und eine Sängerin, welche zeigt, dass sie nicht nur lyrisch feine Melodien interpretieren, sondern auch losdonnern, shouten kann. An diesem Abend und in diesem Saal hatten sie ein Heimspiel, denn die Band stammt aus Manchester.
The Honeyfeet gibt’s seit einem Dutzend Jahre, aber sie macht sich jetzt gerade daran, die Herzen und Ohren auf der gesamten englischen Insel zu erobern – wurde auch Zeit, dass die Landleute hier hinhören.
Tuulikki Bartosik
Die Akkordeonistin Tuuliki Bartosik aus Estland zieht sich gerne zurück, webt ihre sphärischen Akkordeon-Melodien hinter Sound-Vorhängen aus O-Tönen oder weichen Klanglandschaften.
Sie versucht das auch auf der Bühne umzusetzen, indem sie fast kein Licht zulässt. Sie sitzt wohl auf einer beleuchteten Empore, aber das Licht kommt nicht zu ihr, sie spielt aus den Schatten. Ihre Klangreisen sind auch dazu gedacht, die Augen zu schliessen und in der persönlichen Innenwelt Kopfkino-Reisen zu entwickeln. Ihre letzte CD «Playscapes» ist der beste Beleg dafür.
Akkordeon, Kantele, und Soundteppiche aus dem Rechner – Musik für Träumereien und Kopfreisen, weniger für die Bühne geeignet.
Spotify, homepage
Stogie T
Stogie T ist kein Neuling in der südafrikanischen Rap-Szene. Er gehört seit 20 Jahren zur ersten rappenden Garde. Das T steht für Tumi Molekane, eine ehemalige Band war u.a. Tumi and the Volume.
Der Bandname hat gewechselt, die Themen sind für Stogie dieselben geblieben: Was passiert in diesem Land? Wohin entwickelt es sich? Warum geht keine Regierung die wahren Probleme seiner Bevölkerung an? Über diese Gedanken, Frustrationen und Gefühle reflektiert Stogie nicht über Hip Hop Loops, sondern hüllt sie in Soundnetze aus ganz unterschiedlichen Genres. Das kann mal sehr pop-lastig sein, oder eine Lounge-Schmeichelei. Er holt die Leute über zugängliche Melodien ab, um ihnen dann seine nicht immer angenehmen Geschichten zu erzählen. Diese Technik hat er in den letzten Jahren durch viele Kollaborationen perfektioniert.
Mehr Spoken Poet als Rapper, ein Wort-Balancierer, der die gesellschaftlich relevanten Themen der südafrikanischen Realität nicht ausblenden will.
Das letzte Konzert dieses ersten Abends an der WOMEX 2024, das Ensamble B11 aus Venezuela, fällt für die Berichterstattung leider wegen den total überfüllten Ohren und den müden Beinen des Reporters aus. Er verweist auf die CD-Besprechung. Auch werde ich mich morgen wohl entscheiden müssen, welche Konzerte ich besuchen kann. Für heute bin ich schachmatt.
Die WOMEX 2024 Konzertabende
Erster Konzertabend