Konzertante Lamenti, Pop mir Maloya, Kehlkopfgesang, Rock‘n‘Rap und die grosse Party – der zweite Konzertabend am Babel Music XP bot eine breite Stilvielfalt.
Doch beginnen wir erst am Mittag. Zu diesem Zeitpunkt ist die Friche Belle de Mai Zentrum und Diskussionsbasis der Booker, Labelmanager und Agenten – und es finden Kurzkonzerte statt, z.B. auf Einladung der kanadischen Organisation Mundial Montreal. Getreu dem Grundsatz «Es lebe die Frankophonie» werden kanadische Bands hier einem europäischen Publikum vorgestellt.
Les Grands Hurleurs (Kanada)
Les Grands Hurleurs haben es auf sich genommen, für ein halbstündiges Konzert zwei Tage im Flugzeug zu verbringen, inkl. aller Umwege. Ihr Set kurz, knapp und darum voller Energie, und auch voller Kontrolle. Die kanadische Folkrock/-Pop Musik hat vielleicht für manche Ohren ein bisschen viel Squaredance-Charakter, ist aber immer für einen Ohrwurm gut.
Diogo Ramos (Kanda)
Der zweite Künstler dieser Kurz-Showcases ist Diogo Ramos. Der Songschreiber bezieht viele Grooveideen aus dem Samba und anderer brasilianischen Rhythmen seiner ursprünglichen Heimat. Seine 15 Jahre in Montreal haben aber viel Einfluss auf seine Entwicklung als Musiker gehabt. Großstadt-Songs mit Mitsumm-Qualität.
Esinam & Sibusile Xaba (Belgien / Südafrika)
Der Abend begann mit einem Süd-Nordduett, mit Esinam & Sibusile Xaba: Belgien/Ghana trifft auf Südafrika. Die Kombination hätte spannend sein können, aber entweder waren die beiden Protagnist*innen etwas zu nervös, oder es mangelt noch an Handwerk und Bühnenerfahrung; Potential wäre da. Oder etwas anders gesagt: Freude am musizieren reicht noch nicht, um vor einem Fach-Publikum bestehen zu können.
Belugueta (Frankreich)
Viel Handwerk und Konzentration dann von Belugueta. Die fünf Stimmen harmonieren bestens. Am Nachmittag noch erklärte mir Julien Lameiras (rechts), dass das Wachstum eines Arrangements gut und gerne ein paar Jahre dauert, bis alle fünf Sänger*innen mit dem Ergebnis zufrieden sind.
Das Feilen und Schmirgeln führt auch dazu, dass die Stimmen dann aber in der Live-Situation wirklich wissen, welche Töne sie anschlagen. Punktgenau gesungen, vielleicht ein bisschen zu stark auf die Arbeit konzentriert.
Kurdophone (Iran / Türkei / Österreich)
Kurdische und persische Lamenti in konzertanter Umsetzung stehen als Nächstes auf dem Programm. Konzertant meint: die Klangheimat des Orchesters liegt zwischen Klassik und modernem Jazzarrangement.
Angeführt wird die Truppe von Sänger Omid Darvich, einem Sänger mit voluminöser Helden-Stimme. Handwerklich wunderbar, etwas kopflastig, ein ruhiger Einstieg auf einer Bühne, die im Laufe des Abends noch einige Donnerwetter erleben würde.
Aurus (La Réunion / Frankreich)
Dann gibt‘s eine poppige Überraschung aus La Réunion: Aurus, seine beiden Begleiter und eine ganze Menge vorproduzierter Musik-Spuren aus dem Rechner. Geboten wird, zumindest in den ersten Songs, ein Auftritt, der sich auch an Peter Gabriel geschult hat: Klare Ansage, völliges Negieren von irgendwelchen Stilgrenzen, theatralischer Auftritt.
Wäre da nicht das einengende Korsett der Vorproduktionen aus dem Rechner, es könnte ein wirklich intensives Konzerterlebnis werden. Die beiden Musiker auf der Bühne leisten ganze Arbeit als Trigger-Lieferanten und Instrumentalisten. Die klare Vorgabe aus dem Sequenzer erlaubte es dem Sänger umgekehrt, eine schrittgenaue Choreografie auf die Bühne zu tanzen. Im Zeitalter der visuellen Wahrnehmung der Songs auch nicht nichts. Aber Funken sprühen tut’s nicht.
Batsükh Dorj (Tuva / Frankreich)
Dann gehts in die Mongolei, ins Altai-Gebirge, zu einem der klarsten und vielseitigsten Kehlkopf-Artisten, den ich je hörte: Batsükh Dorj. Zusammen mit seinem Begleiter (und Musikethnologen) Johanni Curtet erzählt er die kleinen Geschichten aus der weiten Bergwelt.
Er besingt die Natur, die Welt des Altai-Gebirges. Sein Repertoire besteht aus den letzten noch greifbaren Fundstücken einer Gemeinschaft, die auf 2500 M.ü.M. lebt, einer kleinen Tuva Gemeinschaft als Enklave innerhalb der Mongolei. Batsükh hat die noch letzten mündlichen Überlieferungen gesammelt und neu aufbereitet hat. Nun erzählt er sie für sich, sein Dorf, seine Vorfahren und das Publikum. Ein überzeugendes Konzert, das auch manche nervöse Grossstadtseele ruhig werden liess. Eine Fahrt auf dem fliegenden Teppich.
Feràmia (Frankreich / Okzitan)
Dafür donnert es auf der Bühne nebenan gleich in mehreren Hinsicht. Dort werden in Okzitan und mit brachialer Rockpower unheimliche Geschichten erzählt. Geistergeschichten von Zauberern und Hexen, von Verwünschungen und schrecklichen Seelenpakten.
Die Musik dazu ist laut, roh, hart, knüppeldick, und mit Schlagwerk / Bass und zwei Bläsern unorthodox instrumentiert. Der Soundmixer trägt noch seinen Teil bei. Der Sänger ist ein Rattenfänger und Entertainer, obwohl er es manchmal etwas übertreibt mit seinen Geschichten – nicht alle im Saal verstehen die okzitanische Sprache.
Les Ombres De La Bête (Frankreich)
In den Schatten des Tieres wuchern seltsame Gewächse. Ein Dudelsack wird nicht nur gespielt, auch gewürgt, gequetscht, zur winselnden Verzweiflung gebracht. Ein Saxophon hält dagegen, manchmal als schweres Bariton-Instrument, dann wieder als freundlichere Alt-Ausgabe. Im Hintergrund faucht und stampft es aus einem Rechner. Zusammengespleisst wird das Ganze von einem nervös wieselnden Bass.
Was für François Robin und Mathias Delplanque einst als Duo begann ist mittlerweile zum Quartett angewachsen. Sehr intellektuell dieses Klanggebäude: Wer Lust auf ungehörte Sounds und etwas Untergangsstimmung hat, ist hier gut aufgehoben.
Fleuves (Frankreich)
Aus der Bretagne kommen Melodienschlaufen, die einen hypnotischen Sog entwickeln. Das Trio aus Klarinetten, Piano und Bass arbeitet mit der Musik, als wäre sie ein Hypnose-Trigger. Klarinetten-Phrasen werden mehrfach wiederholt, dann aber doch nicht ganz tongleich kopiert. Das Piano wird oft ein sehr perkussiv eingesetzt. Der Bass ebenfalls.
Mittlerweile ist auch ein Teil der Jugend Marseilles im Festivalgebäude Le Dock des Suds eingetroffen. Sie danken es dem Soundmixer, dass er auch deftige Subbässe in seine Klangmischung einbaut. Bald tanzt der Saal, und am Schluss ist nicht ganz klar, wer jetzt mehr Freude hatte an diesem Konzert: das Publikum oder die strahlenden drei Musiker.
Vox Sambou (Kanada)
Warum Vox Sambou aus Montreal nicht schon längst auch hier in Europa einen klingenden Namen hat, ist noch nicht eruiert. Könnte aber bald anders werden, denn auf der Bühne steht das professionellste Powerhaus des Abends. Angeführt von einem charismatischen Rapper (mit viel Sinn für Melodie) geht die Post mächtig ab.
Reggaeton, haitianische Rhythmen, Aufrufe zur sozialen Achtsamkeit, ein Schuss Afrobeat und eine rechte Portion Jazz: all das wird ohne Verbiegung und Erdenschwere in eine tanzbare Klangwelt verpackt, die auch die bewegungs-resistentesten Beine ins Zucken bringen.
Neben Vox glänzt Sängerin Malika Tirolien mit einer überzeugenden Stimmgewalt: die Frau kann einfach alles singen, und hat Power für zwei. Einige kennen sie vielleicht als Frontfrau von Bokanté. Ist sie dort eher zurückhaltend, singt sie hier mit vollem Schub und absoluter Sicherheit.
Dahinter schiebt eine fünfköpfige Truppe die beiden Frontleute über den Bühnenrand, dass die Ohren schlackern – nein, nicht vor Lautstärke, sondern mit handwerklicher Überzeugungskraft. Vox und seine Band werden wohl in der nächsten Konzertsaison in Europa live zu erleben sein – wer Party liebt, bei der das Gehirn eingeschaltet bleiben darf, sollte sich das Erlebnis nicht entgehen lassen.
Mittlerweile sind viele Nachtschwärmer*innen aus Marseille eingetrudelt, denn hier legen DJs bis um 3.30h auf. Ein paar Aliens oder Mutanten sind ebenfalls eingetroffen.
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