Die 33. Rencontres de Chants Polyphoniques de Calvi waren sowohl Wiederhören wie Aufbruch.
Eines vorneweg: Die Gastgeber der 33. Rencontres de Chants Polyphoniques, A Filletta, haben keine Angst davor, Grenzen zu überschreiten. Sie führen ihr Publikum mit jedem Projekt weiter weg von den gemütlichen, harmonischen Gesängen Korsikas. Doch der Reihe nach:
Die Gesangstage in Calvi fanden trotz Covid vom 14. bis 19. September in lockerer Atmosphäre statt. Zertifikatskontrolle gab’s vor jedem Konzert inkl. ein koordinierter Einlass. Auch das gut organisierte Verlassen der Konzertlokale nahm auf die virale Situation Rücksicht.
Dienstag, 14.9.
Ich kam etwas verspätet in Calvi an, deshalb eröffnete Piers Faccini meine Konzertreihe. Ich wurde überrascht: Das Repertoire beinhaltete viele Songs aus seinem letzten Album „Shapes of the Fall“,, doch wurde er diesmal nicht von den Gebrüdern Ziad begleitet, sondern von der Cellistin Juliette Serrad. Die rhythmischeren Nummern fanden keinen Platz im ruhigen Repertoire, die Songs wurden in dieser Interpretation noch transparenter. Mit der kubanischen Sängerin und Cellistin Ana Carla Maza nahm Piers Facchini auch gerne den selbstgewählten Festival-Auftrag an – der Begegnung, dem Austausch von Musikerinnen und Musikern.
So sah der Zeichner das Konzert:
Mittwoch 15.9.
Die Kubanerin Ana Carla Maza (Spotify-Link) entführte in ihrem Konzert das Publikum auf eine imaginäre, spanisch-französische Reise durch den Kontinent der Latin-Melodien. In mehreren Station ging die Reise von Buenos Aires nach Bahia – aber eben nicht das Bahia Brasiliens, sondern ins gleichnamige Quartier von Havanna, dem Geburtsort der Sängerin. Sie mischte Scat-Gesang mit schwelgenden Melodien, nutzte ihr Cello auch mal als Perkussionsinstrument, um gleich darauf wieder auf den Saiten zu schwelgen.
Für den ersten Konzert-Auftritt von A Filetta hatte der Chor ein Streichsextett eingeladen, das Ensemble Conductus. Diese Zusammenarbeit liegt weit weg von den traditionellen Wohlfühlharmonien Korsikas. In diesen Kompositionen, die sich eher im Bereich der neuen Klassik ansiedelten, nutzte den Chor ganz neuen Harmonien. Zeigte auch den Wunsch, die Gesangskunst aus den Zwängen der Tradition zu befreien, auf neue Ebenen zu hieven. Das gelangt musikalisch, liess jedoch viele Zuhörerinnen und Zuhörer in der Kathedrale von Calvi verunsichert zurück.
Hier ein Hörbeispiel aus den Anfängen der Zusammenarbeit, ein Mitschnitt aus einem Konzert aus dem Jahr 2010.
Am gleichen Abend gab’s eine zweite Klang-Überraschung: die beiden Improvisatoren François Salque (Cello) und Vincent Peirani (Akkordeon) holten sich eine ungewöhnliche Gesangs-Unterstützung: Les Chanteurs d’Oiseaux. Die beiden Kunstpfeifer und die beiden Improvisatoren luden ein zu einem Spaziergang über Wald und Feld, und auf unerwartete Aussichtsplätze.
Ein Klangbeispiel der Chanteurs d’Oiseaux: Serins Eu Canon
Donnerstag 16.9.
Das Donnerstag-Abendprogramm musste wegen der Absage einer Sängerin geändert werden. A Filletta sprangen ein – und forderten ihr Publikum ein weiteres Mal. Wieder war es nicht das gemütliche Liederbuch Korsikas das geboten wurde, sondern Ausschnitte aus verschiedensten Projekten, in die A Capella Truppe in den vergangenen Jahrzehnten mit unterschiedlichen, musikalischen oder tänzerischen Partnern gewagt hatten.
Meistens waren es klangliche Interpretationen von Sagen und Mythen aus der Antike: Jason und die Argonauten, Odysseus oder Ödipus. Auch hier zeigte sich die Wandlungsfähigkeit der Truppe – und die nicht ganz so enthusiastische Reaktion des Publikums. Alle zollten den Sängern ihren Respekt, aber man hätte es gerne etwas wohliger gehabt.
Freitag 17.9.
Stimmen aus den Süden und dem Norden standen auf dem Programm: Zuerst drei Musiker aus dem Salento: Enza Pagliara, Dario Muci und Antongiulio Galeandro. Sie brachten traditionelle Lieder, und eigene Komposition, nach den Regeln der Pizzica und Tarantella-Tradition verfasst. Akkordeonist Galleandro wob Klanggebilde, in denen sich die Stimmen bestens wohlfühlten. Die Mikrofone auf der Bühne dienten nur noch der Balance, Sängerin und Sänger füllten mit ihren Stimmen die Kapelle in Clavis Zitadelle bestens.
Fünf Frauen aus Dänemark, das Glas Vocal Ensemble (Spotify-Link), belegte auf eindrückliche Art und Weise, dass die Gesangstechnik der Frauenchöre aus Bulgarien auch im hohen Norden Nachahmerinnen und Freundinnen gefunden hat. Darüber hinaus zeigten sie, dass man auch Lieder aus Finnland und Dänemark in dieser Technik arrangieren konnte – herzlich, stimmgewaltig und überzeugend. Oder wie es der Programmtitel ausdrückte: Songs from the Heart.
Ein Klangbeispiel:
Der Abend gehörte der Sängerin Fadia Tomb El-Hage und dem Ensemble Fragments. Die libanesische Sängerin beherrscht die mikrotonalen Skalen des Nahen Ostens ebenso wie die lyrische Gesangs-Tradition Westeuropas. Ihr Programm «Masārāt» (Spotify-Link) war denn auch ein fordernder Parcours zwischen den Kulturen und den Harmonien. Die Lieder stammen alle von libanesischen Komponisten von Mansour Rahbani bis zu Marcel Khalifé, angesiedelt zwischen Tradition und Moderner Klassik.
Samstag, 18.9.
Der Vorabend brachte eine weitere Stimme aus der arabischen Welt, die ägyptische Sängerin Abir Nasraoui (Spotify-Link). Ihre Begleiter, Oud-Virtuose Tarek Abdallah und Perkussionist Adel Shams El-Din hatten für die Sängerin ein Programm zusammengestellt, welches sowohl die äusserst komplexe Tradition des Maqam vorstellte, wie auch Kompositionen der ägyptischen Ikonen Oum Kalsoum und ihres Hauskomponisten Mohammed Abdel Wahab: Tradition unverkrampft interpretiert und frisch belebt.
Am Abend wurde Geburtstag gefeiert, denn der Verein U Sveliu Calvese, Organisator der Rencontres de Chants Polyphoniques de Calvi, feierte seinen 40 Geburtstag. Das Konzert betonte denn auch den Übergang von der älteren zur jüngeren Generation. Neben A Filetta, dessen Besetzung sich über die Jahre auch verjüngt hatte, traten die Gitarristen Nico und Fanou Torracinta auf. Nico schreibt seine Songs eher auf der poppigen Seite der Tradition, Fantou trägt die Melodien der Insel in jazzige Gypsy-Interpretationen.
Alte Weggefährten wie Daniele di Bonaventura und Fadia Tomb El-Hage unterstützten A Filetta auf einem weiteren Ausschnitt durch das reichhaltige Repertoire. Diesmal lag die Auswahl näher an der Tradition als bei den ersten Auftritten des Vocal-Ensembles. Das Publikum verdankte sowohl diesen Auftritt, wie das gesamte Festival, mit stehendem und anhaltendem Applaus.
Wenn sich an den Rencontres in Calvi auch noch das Publikum verjüngt, so wie es die Musiker und Interpretinnen auf der Bühne gezeigt haben, dürfte die Absicht der Organisatoren berechtigt sein: «Wir sind nicht 40 geworden, sondern unterwegs in unserem 41. Lebensjahr / Simu ind’è i nostri 41 anni ! »
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