«Open Air Spektakel»: diese Definition hat sich das Waldstock Festival in Steinhausen bei Zug selber verpasst. Ein familiäres Dorffest mit erstaunlich vielseitigem Musikangebot.
Das Waldstock Festival ist ein Dorffest im Open Air Gewand (3.- 5.8.23). Wettertechnisch habe ich den ersten Fest-Abend am Donnerstag nicht besucht – es regnete… Als ich am Freitag-Spätnachmittag dann auf dem Gelände in Steinhausen, ein paar Bahnkilometer ausserhalb von Zug, eintraf, glich die Wiese bereits einem gut festgetretenen Lehmboden. Nicht mehr glitschig, aber leicht nachgiebig. Ein guter Tanzboden.
Empfangen wurde ich von einem seltsamen Bläsertrio. Wobei zwei der Bläser, Trompete und Posaune, resp. Linus Amstad und Jonas Inglin, gut aufeinander eingespielt, improvisierten. Ein jeweils gemeinsam gespieltes Motiv hielt die improvisierten Zwischenstücke wie eine lockere Kette zusammen.
Der dritte im Bund, ein Laubbläser, trieb Musiker und Publikum nach einer gewissen Spielzeit von der einen Bar zu nächsten – wie es sich für einen Laubbläser gehört.
Das erste grosse Orchester des Nachmittags mit dem klingen Namen «Rich Man’s Kitchen Orchestra» versprach zum Konzertbeginn in blumigen Wortkaskaden ein Blick in sämtliche Suppentöpfe der Karibik. Gekocht wurde tatsächlich mit vielen Zutaten von Trinidad bis Jamaika, von Calypso bis Ska, bis hin zum Doo-Wop-Klassiker «Three Cool Cats».
Die Bläser-Frontlinie wechselte ihre Instrumente von Sax über Klarinette bis Querflöte je nach Bedarf, Drum und Perkussion liessen das Tempo nie nachlassen, der Gitarrist mit Banjo hatte öfter mal einen Freipass. Die Bassläufe kamen gerne doppelt besetzt daher, mit Stehbass und Tuba.
Gesungen wurde auch, vielstimmig und lustvoll.
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Die beiden Bühnen auf dem Waldstock-Gelände standen sich vis-à-vis. Kaum war der letzte Ton auf der einen Bühne verklungen, ging’s gleich auf der nächsten weiter: Nola Kin war angesagt. Sie begann ihr Programm mit etwa dem halben Tempo des Kitchen Orchestras.
Das blieb denn auch der Grundrhythmus über weite Strecken des Sets. Wie sagte die Songwriterin auf der Bühne: «In diesem Song frage ich mich, wer ich bin, oder eben nicht.»
Viel Hall, viel Herzschmerz, durchbrochen von zornigen bis verzweifelten Gitarrenattacken ihres Bassisten. Doch dann gleich wieder Rückzug in die Privatsphäre, ab unter die Kuscheldecke. Welt bleib draussen.
Die Songwriterin muss kämpfen, denn ihre Altersgruppe, ihr Publikum ist an diesem Nachmittag nicht zahlreich vor Ort.
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Auch Professor Wouassa begannen ihr Set mit angezogener Handbremse. Vielleicht lag’s auch ein bisschen am Himmel, denn der sah bedrohlich aus. Grau in grau mit schwarzen Flecken. Doch dann drehte das Afrobeat-Grossensemble aus der Romandie mächtig auf, und verscheuchte Wetterängste und drohende Niedergeschlagenheit.
Ich dachte erst: hoppla, die verschenken ihre Hits wie «Yobale Ma» oder «We Thit» schon sehr früh. Aber die Rechnung ging auf, sie hatten das Publikum im Sack.
Die Steinhauser*innen sind kein Grossstadt-Publikum, jubeln nicht gleich laut mit, halten ihre Begeisterung etwas zurück. Die Band liess sich nicht beirren.
Gut so, denn als sich die Dorf-Jugend beim zweitletzten Songs auf der Bühne präsentieren konnte, und die Zugaben lautstark gefordert wurden, gab es nur noch strahlende Gesichter, in der Band und im Publikum.
Ich darf sagen, dass die Truppe einen der schärfsten Bläsersätze der Schweiz hat, die Gitarren können sich zurücknehmen, aber wehe wenn sie losgelassen. Der Bass pumpt, das Schlagwerk solide und steady, und viel Rhythmus wird vom Perkussionisten beigesteuert. Die beiden Frontleute können sich auf ihre musikalische Rückendeckung verlassen, geniessen den Schub.
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Dann gab’s vor der letzten Band eine kurze Verschnaufpause mit einem Film. Ich liess mir sagen – und das ist historisch belegt – dass dieses Dorf-Spektakel ursprünglich als Open Air Kino begonnen hatte. Der Film hat auch nach 23 Jahren seinen fixen Platz im Spektakel-Repertoire. Ich verliess den gastlichen Ort, musste noch den letzten Zug erwischen.
Der Samstag
Mein Samstag begann mit einem Telefonanruf eines Kollegen, der hinter den Kulissen des Waldstocks tätig war: «Kennst du jemanden, der Saz spielt. Wir brauchen eine, ist auf dem Transport beschädigt worden». Ich konnte nicht gross helfen. Aber als ich ihn später auf dem Festivalgelände traf meinte er: «Am Schluss der Telefonaktion hätte ich aus sieben Instrumenten auswählen können. Aber wir haben das Teil hinter der Bühne dann selber gelötet.» Netzwerk, Improvisation und Einsatz gehören zur DNA dieses Festivals.
Der Samstag Nachmittag gehört traditionsgemäss den jüngsten Bürger*innen von Steinhausen. Klar erkennbar am Geländeeingang an einem ziemlich gut besetzten Kinderwagen- und Anhänger-Parkplatz.
Mit den beiden Barden Laurent & Max kamen am späteren Nachmittag Jung und Alt gleichermassen zum Zug. Konzept: man nehme bekannte Hits, jeglichen Datums, und texte Neues auf die Melodie. Bedingung: Der Inhalt muss aus den Lebensgeschichten von Primar- und Sekschüler*innen stammen.
So wird aus «We will rock you» «Mir wänd Schoggi», aus der «079»-Nummer von Lo & Leduc wird ein Kampf mit Mami, die findet, jetzt sei genug gesurft und gechattet, und aus «No Woman no Cry» ein Leidenserlebnis: «Ich wott nonig hei». Das wechselt dann zwischen zwei Strophen in den Allzeit-Kinder-Hit «Ohni Znacht is Bett» von Stärnenföifi (Spotify). Das Kinderpublikum, welches auf den Bänken und Strohballen sitzt oder tanzt, geht voll mit.
Auftritt Ayom. Das Wetter hat mittlerweile von leicht bewölkt auf strahlend sonnig gewechselt. Und die Mannen um Jabu Morales verbreiten von Anfang an frohe Tanzstimmung mit südlichen Rhythmen. Das Repertoire besteht zu zwei Dritteln aus dem vielfach gefeierten Erstlingsalbum der Truppe. Das Publikum geht begeistert mit.
Die neuen Nummern, die eingestreut werden, haben noch nicht ganz den nötigen Biss. Sie klingen vermehrt nach Brasilien. Das war mir bereits vor einem Jahr am letztjährigen Buskers Festival aufgefallen. Jabu meinte damals: die Melodien stammen auch weiterhin aus dem Mittelmeerraum.
Nur weil sie auf Brasil-Portugiesisch singe werden noch lange keine brasilianische Nummer daraus. Ich wage das zu bezweifeln, und dem Publikum gefiel der Mix ausgesprochen gut. Wie es dann effektiv tönt kann im kommenden Februar überprüft werden. Dann soll die neue Produktion erscheinen.
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In Steinhausen gab’s einen gewollten, programmlichen Stilbruch: von der Musik zum Improvisationstheater mit «ab und zufällig».
Wer nicht mit-improvisieren wollte stellte sich in eine der langen Reihen vor den Essensstände. Hier einige Impressionen des Festes ausserhalb des musikalischen Angebots:
Die Sonne verabschiedete sich langsam, die Wolken zogen wieder auf, auf der grossen Bühne legten Şatellites aus Tel Aviv los.
Melodisch dreht sich alles um die Bouzouki, resp. die (geflickte) Saz von Itamar Klüger und die Frontlady Yuli Shafriri.
Die Musik ist der anatolisch-psychedelischen Szene der 60er und 70er Jahre entlehnt. Allerdings gehen die Feinheiten der Songs oft im Donnerwerk von Keyboards, Bass und viel Drums / Perkussion unter.
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Um beim Donnern zu bleiben: Aus den aufgezogenen Wolken fielen die ersten Tropfen, der Berichterstatter machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Danke Steinhausen: ihr habt hier ein familiäres und musikalisch wunderbares Dorffest. Chapeau!
Jonas meint
Lieber Jodok
Hier sind Laura und Jonas vom waldstock-Booking-Team. Peter Holdener hat uns auf deinen Beitrag aufmerksam gemacht, welchen wir mit viel Freude und Interesse gelesen haben. Es ist schön, so viel über die Musik an unserem kleinen, aber feinen Festival zu lesen.
Leider haben wir uns am Festival verpasst, aber das können wir gerne im nächsten Jahr nachholen. Soll heissen: sehr gerne bist du im nächsten Sommer wieder willkommen bei uns. Das Datum des waldstock 24 steht bereits fest: Do-Sa, 1.-3. August 2024.
Herzlichen Dank für deine Berichterstattung und dein Interesse an unserem (Musik)-Programm! Deine Website ist generell eine sehr lohnenswerte Entdeckung, Gratulation!
Laura & Jonas
Jodok Kobelt meint
Gern geschehen. War familiär gemütlich bei euch. Dann bis nächstes Jahr!