Letzter Tag und letzte Konzertnacht am Festival Babel Music XP. Es gab u.a. Wiederentdeckungen, lebendige Traditionen, Grossorchester und Recycling-Instrumente.
Eine italienische Grossformation mit viel Gebläse, gekonnt arrangierte Okzitan-Stimmen mit viel Perkussion, Erfrischendes aus Dänemark, nicht so Erfreuliches aus Frankreich und kurdische Gedichte im Blues-Klang-Kleid. Am letzten Konzertabend in Marseille war das Angebot durchmischt – und durchzogen. In der Reihenfolge ihrer Auftritte:
Ariel Tintar – zerbrechliche Kopfsongs
Die Identitätssuche ist treibende Kraft für den Songwriter mit karibischen Wurzeln und neuer Heimat Frankreich. Doch in der neuen Heimat ist der Multiinstrumentalist noch nicht ganz zuhause, oder zumindest nicht immer willkommen.
Er hat sich auch nicht die einfachste Darbietungsform ausgewählt, das Duo. Er selber an der Gitarre und am Gesang. Sein Drummer triggert alle Keyboard-Loops, Chorelemente und zusätzlichen Rhythmusspuren, welche die Melodien etwas unterfüttert. Das klingt zuweilen wie wenn der Komponist sich selber an eine lange Leine gelegt hätte.
AySay – die Heimat ist die Musik
Die Dänen überraschten. Vor allem die Präsenz der Frontfrau und Songschreiberin Luna Bülow Ersahin. Schon ihre Scheibe «Su Akar» hatte 2021 überzeugt. Doch mittlerweile haben die Songs Road-Tauglichkeit erhalten, die Arrangements sind an die Live-Situation angepasst, die Band ist sattelfest in ihrem Repertoire.
Es überzeugte vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die jungen Musiker*innen ihr Handwerk präsentierten. Als hätten sie in die fremden Kulturwelten durchschwommen. Manchmal vielleicht ein bisschen viel auf Kontaktsuche mit dem Publikum, aber immer unterhaltend und charmant.
Al-Qasar – Magreb, rockig ausgelegt
Auch hier gab’s eine Überraschung, allerdings keine so positive. Thomas Attar Bellier hat im letzten Herbst mit «Who Are We» ein Album voller Magreb Rhythmen, treibenden Rhythmus-Grooves und spannenden Gäste produziert. Ich war gespannt auf die Live-Umsetzung eines Produkts, das auch die Dancefloor-Generation begeistert.
Dass ein Quartett nicht die volle klangliche Bandbreite einer Studioproduktion auf die Bühne bringen kann ist selbstverständlich. Aber die musikalische Vergangenheit von Bellier als Psychedelik-Rocker holte ihn ein, resp. er konnte nicht über seinen Schatten springen. Und so walzte er mit seinem Power-Rock-Ansatz die Substanz der Songs platt.
Meral Polat Trio – Blues aus kurdischen Gedichten
Mit Meral Polat betritt eine junge Frau die Musikszene, die bisher vor allem in der Theater- und Filmwelt zuhause war. Die Kurdin lebt sein zwei Jahrzehnten in Amsterdam, doch die Arbeit an und mit den hinterlassenen Handschriften ihres Vaters – Gedichte, Gedanken – verband sie erneut mit ihrer alevitischen Herkunft.
Nun wählte sie nicht einen kurdischen Ansatz für die Umsetzung, sondern fand im Blues eine gefühlsverwandte Umsetzungsform. Wobei verwandt nicht die Blues-Song-Struktur meint, sondern den emotionalen Gefühlshaushalt. Ihre Lamenti werden von Orgel und (einem sehr groovenden und kreativen!) Schlagzeug begleitet. Die Orgel nimmt die Dynamik von Sängerin und Schlagwerker auf, und setzt sie auf ein gemeinsames Fundament. Spannend.
Soval Chaviré – Maloya revisited
Initiant des Projekts ist der Songschreiber Yann Tambour (Stranded Horse), der sich in die Musik von La Réunion, insbesondere in den Maloya verliebte. Nicht um den Stil zu kopieren, sondern um zu verstehen, wie diese Musik entstanden ist. In Marco Lacaille fand er einen Wegbegleiter, der in dieser Musik gross geworden ist.
Vieles aus der Song- und Klangwelt des Maloya ist in die neuen Lieder von Tambour eingeflossen: Die Instrumentierung im Rhythmusbereich, die Arrangements der Stimmen, auch der Einbezug der Kora. Allerdings fehlt (noch) die Dynamik, das Aufbrausen, die Kraft.
Rhabdomantic Orchestra – Grossformation mit Schub
Sprach ich vorher von Kraft und Aufbrausen, dann kann man es der Grossformation aus Turin nicht absprechen. Das Rhabdomatic Orchestra hat als Herz einen ausgewachsenen Bläsersatz. Dazu gesellen sich zwei Schlagwerker, zwei Saitentänzer und Keyboards. Also genug Schubkraft, die von einer Sängerin gut gebändigt werden.
Was mir aber etwas fehlte war die Lockerheit. Selbst die Ausflüge in disharmonische Jazzwelten waren durchstrukturiert. Und so wurde die Kraft und Dynamik des Gebläses zu stark ins Arrangement eingebunden, kam darum selten zum Ausbruch.
Barrut – aus der DNA Südfrankreichs
Es war bereits 23.00h als die angesagten Lieblinge der Marseiller*innen die Bühne betraten. Der mittelgrosse Konzertbereich «Mirabeau» war rappelvoll wie kaum je zuvor während des Festivals. Als dann der Sprecher des Okzitan-Chors auch noch auf die rebellischen Wurzeln der okzitanischen Sprache hinwies, und an die politischen Herzen appellierte – im Moment brodelt es im Sozialgefüge Frankreichs, und an den Tagen zuvor waren immer wieder Streik-Umzüge durch die Stadt gezogen – fühlte sich das Marseiller Herz so richtig zuhause.
Musikalisch begleiteten sich die Sängerinnen und Sänger auf diversen Trommeln und Perkussionsgeräten. Doch es waren vor allem die Chorarrangements welche eine Sogwirkung entwickelten. Dies liess auch Herzen höher schlagen, die nicht aus Marseille stammten, und nichts mit Aufstand und Revolution am Hut haben.
Deli Teli – Nostalgie ohne Patina
Gleichzeitig spielten im kleinsten Konzertlokal der Docks du Sud Deli Teli eine Musik, die man in dieser Hafenstadt lange nicht mehr gehört hatte: Laïko – die angesagte Tanzmusik Griechenlands, des östlichen Mittelmeers in den 60er und 70er Jahren. Quasi der tanzende Cousin des Rembetikos. Wie es sich für die manchmal etwas schmalzige Tanzmusik gehört, traten die Herren in glitzernden Sackos auf und betonten damit Herkunft dieser wieder ausgegrabenen Musikform.
Wobei «ausgegraben» nicht wirklich gemeint ist, denn im Osten des Mittelmeers werden diese Songs immer noch gepflegt. In Marseille aber gingen sie vergessen. So sind die Macher von Deli Teli denn auch ziemlich stolz, dass sie ihre Fangemeinde im Süden Frankreichs am wachsen ist, und dass bald mal eine Konzertreise nach Griechenland und in die Türkei als Fernziel winkt.
Fulu Miziki Kolektiv – Tanz dich frei
Die Band gehört zur grossen Familie der Congotronics. Will heissen Tanzmusik aus Kinshasa mit unkonventionellen Mitteln und Instrumenten. Das Fulu Miziki Kolektiv hat die Do-it-yourself-Bastelei von Instrumenten und Bühnendresses aus Abfällen des Alltags und der Industrieproduktion zur Kunst erhoben. Auf der Bühne steht eine Grosstruppe, die eingekleidet sind wie Weltraum-Reisende von einem sehr fernen Stern. Sie spielen auf allem, was irgendwie gehauen, geschüttelt und traktiert werden kann.
Die hoch getakteten Rhythmen entwickeln einen Sog und eine zwingende Einladung, seine Tanzfüsse zu bewegen. Denn darum geht es: Move it!
Maïa Barouh – Ein Gruss aus Fernost
Ich zweifle etwas an der PR-Abteilung des Festivals – oder die Sängerin ist ein musikalisches Chamäleon. Maïa Barouh war als franco-japanische Punkmusikerin angekündigt. Doch zu sehen und zu hören gab es zum Abschluss des Konzertreigens eine Künstlerin mit japanischen Wurzeln, der eine dramaturgische Umsetzung von Liedern unbekannter Herkunft mit japanischer Eleganz gelang.
Begleitet von einem groovenden, digitalen Tastenmeister und einer ausgezeichneten und vielseitigen Schlagzeugerin konnte die Sängerin ihre Geschichten mit viel Darstellungskunst erzählen. Also nix Punk, sondern Eleganz.
Und was legt die DJane von Medienpartner Radio Nova zum Einstieg in ihr Set auf? Rosalía und ihr «Chicken Teriyaki» (Spotify) – passt. Die Tanzparty nahm Fahrt auf, und die Bar hatte Hochbetrieb.
Festivaldirektor Olivier Rey sprach beim Start des Babel Konzertreigens von einer Renaissance der Festival-Idee: Die physischen Polit-Grenzen aller Kulturzonen der Welt, zumindest der Frankophonie, durch Musik zu überbrücken, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Möge die Renaissance gelingen.
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