Mein zweiter Konzertabend begann ausserhalb des WOMEX-Fahrplans, in einem Club im Fado-Quartier im Süden. Nur gab es keinen Fado.
Gastgeber war Jacob Edgar, Mastermind des Labels Cumbancha. Er stellte drei seiner Formationen mit aktuellen Produktion in kurzen Showcases vor. Als erstes eine Truppe aus Schweden:
Die schwedische Band Kolonien – hier mit Gitarrist Arvid Rask und Geigerin Anna Möller – erobern mit ihrer Produktion «Till Skogen» im Moment gerade unsere Ohren. Fröhliche Folk-Songs mit Schwung. Das muss nicht immer heissen, dass die Geige zum Tanz aufspielt.
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Von Balafon-Virtuose, Gitarrist und Songschreiber Kimi Diabaté wird im kommenden Februar ein neues, sein drittes Album erscheinen. Es ist manchmal etwas verwirrlich, wie viele Musik-Stile Kimi in seine Songs einbringt. Für ihn ist es ganz einfach: Es ist im Grund Mandingo-Musik aus Guinea-Bissau, mit einem Schuss Afrobeat und «mit allem, was mir zu Ohren kommt».
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Wesli, der Troubadour aus Haiti, zuhause in Montreal, hat gerade die erste aus einer ganzen Reihe von Produktionen herausgebracht, die sich mit seiner alten Heimat befassen. Sechs Jahre hat er nach den Wurzeln der Sprachen und Lieder auf ‚seiner‘ Insel geforscht. «Das hat mir so viel Ideen und Material gebracht, dass ich noch über manche Jahre aus der Tradition der haitischen Kultur erzählen und singen kann.» Das aktuelle Album «Tradisyon» ist gestern erschienen und steht bereits auf den vorderen Plätzen der Worldmusic-Charts.
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Eine weitere Plattentaufe konnte Ngulmiya ankündigen. Der Aborigines Sänger stellte sein aktuelles Album «Ayanjanarri» live vor. Mehrheitlich ruhige Lebens- und Naturbetrachtungen aus dem Norden Australiens, vorgetragen mit viel Herz und Stimme.
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Die algerische Sängerin Djazia Satour, heute zuhause in Grenoble, verzauberte mit Charme und Stimme das WOMEX-Publikum. Ihr Mix aus Chaabi, Pop und Charme wird auch in den süsseren Melodien nie kitschig. Begleitet von einem, in den magrebinischen Rhythmen sattelfesten Trio, hat sie das Publikum im Nu begeistern können. Das Publikum senkte in den leiseren Passagen sogar seinen eigenen, zwischendurch etwas störenden, Gesprächs-Geräuschpegel.
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Aus Ungarn kommt die Musik-Initiative MOST die sich für einen stärkeren Fokus auf die Musik der osteuropäischen Länder einsetzt. In Lissabon stellte sie u.a. Perija aus Nord Mazedonien vor. Die junge Truppe mit etwas schwermütige Songs – stilistisch als Dark Folk bezeichnet – mixt in ihre heimatlichen Melodien Einflüsse aus dem Nahen Osten und Rhythmen aus Nordafrika.
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Ebenfalls sehr folkig treten Aguamadera auf. Die Formation um die beiden Frontleute Marco Grancelli und Maria Cabral schöpfen vor allem aus der argentinischen Tradition, zögern aber nicht, auch in weiter entlegenen Liederbüchern, so aus Venezuela oder Peru, zu stöbern. Ihr Markenzeichen sind die beiden hervorragend harmonierenden Stimmen und das Zusammenspiel von Gitarre und Cuatro.
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Full House gab’s für Bia Ferreira. Die brasilianische Songschreiberin und stimmgewaltige Sängerin nutzt ihre Power, um sich gegen soziale Ungerechtigkeiten einzusetzen, für das Recht ‚Nein‘ sagen zu können, und zwar in Politik und Gesellschaft. Das hören viele, denn zuhause ist sie ein Star. Trotz grossen Themen geht ihr manchmal etwas bitterer Humor nicht verloren: «Ich singe jetzt ein Liebeslied. Man kann ja nicht nur über Probleme singen, manchmal darf es auch einfach etwas Tröstliches sein, oder eben ein Liebeslied.»
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200% Energie und 100% Kompaktheit erwarteten mich beim Konzert von La Mambanegra aus Cali, der Salsa und Hip Hop Metropole im Westen Kolumbiens. Jetzt bitte nicht lachen: Die visuelle Verwandtschaft (wenig Haare oben, dafür mehr um’s Kinn) von Frontmann und Produzent Jacobo ‚El Callegüeso‘ Vélez mit dem Action-Star Jason Statham verleitet mich zum einem Vergleich. La Mambanegra spielen so, wie Statham in seinen Transporter-Filmen Auto fährt: Vollgas, scharfe Manöver und unwiderstehlich.
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Mit viel Didgeridoo, Elektronik und zuweilen stampfenden Beats kehre ich zurück auf den Balkan, resp. nach Bulgarien. Die Folktronica-Songs von Oratnitza entfalten in der Live-Version nicht mehr die leicht verwunschene Stimmung der Studioaufnahmen. Es geht handfester zur Sache.
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Mit Rina Das hat sich einmal mehr eine Frau in einen, von Männern dominierten Musikstil eingemischt – und sich durchgesetzt. Heute ist ihre Truppe Rangamatir Baul ein Diamant in der Musikwelt der Baul. Die Musik der Baul ist gelebte Spiritualität. Früher waren die Bauls auch wanderende Prediger: Ihre Anliegen sind Bedürfnislosigkeit, sie richtet sich gegen die rigide gesellschaftliche Trennung Indiens in einem Kastensystem. Vor allem aber geht es um die Vermittlung von Frieden und Freundschaft.
Mit Tito Paris kamen die Kapverden nach Lissabon. Seit Jahrzehnten ist er einer der führenden Sänger und Komponisten der atlantischen Inseln. Einige seiner Songs gehörten auch ins Repertoire der Grande Dame des Morna, Césaria Evora. Er wohnt seit langen Jahren in Lissabon, und der Auftritt im Konzert-Kino São Jorge war für ihn – und uns – sowas wie eine Einladung in sein Wohnzimmer. Dementsprechend herzlich war auch die Konzertatmosphäre.
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Zum Schluss gab’s nochmals Party-Schub mit Son Rompe Pera aus Mexiko. Von der Bühne klang der Kampfruf «Cumbia is the new Punk», wobei das manchmal auch klang wie «..is the new Funk». Egal, stimmt beides irgendwie, wobei die gradlinigen Beats eindeutig überwogen. Die Grooves gibt eine grosse Marimba vor, ein stampfender Bass und ein Hau-drauf-Schlagwerk geben Schub, die Gitarre grätscht dazwischen, und die beiden Frontleute singen/schreien sich die Seele aus der Kehle, arbeiten, dass der Schweiss fliesst – und grinsen dabei wie Spitzbuben.
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WOMEX 2022 im Überblick
Der Eröffnungsabend
Der erste Konzerttag
Der zweite Konzerttag
Der dritte Konzerttag
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