Der erste Konzerttag der WOMEX 2022 trug viel Energie und Emotion von der Bühne ins Publikum. Nicht alle Absichten trafen auf Resonanz.
Der Konzertreigen wird an der WOMEX jeweils bereits am Mittag mit zwei Auftritten eröffnet.
In diesem Jahr stimmgewaltig und kraftvoll rhythmisch von Les Mécanos eröffnet. Die zehn «Mechaniker» aus dem Süden Frankreichs singen in Französisch und Okzitan. Ihre Perkussionsauswahl ist kreativ einfallsreich. Ich wusste bis zu diesem Auftritt nicht, wie effektiv zwei Schraubenschlüssel als Claves-Ersatz klingen, welche überraschenden Klänge aus einem Auspuffrohr oder eine Felge herausgeklopft werden können. Zehn Stimmen, gut getuned.
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Klanglich aus einer ganz anderen Welt kommt das Duo Ruut aus Estland. Zwei junge Frauen und ein Instrument, das beide gleichzeitig bedienen. Es ist ein entfernter Verwandter der Kantele, eine estnische Zither. «Wir sind per Zufall auf dieses Instrument gestossen, haben es anfänglich aber gar nicht gerne gehabt», erzählen die beiden. «Erst als wir anfingen, einfach an dem Instrument herumzuklopfen und zu experimentieren, freundeten wir uns mit ihm an.» Zweistimmig, leicht klagende Melodien, begleitet von einem Instrument, das wohl nicht auf die klassische Art eingesetzt wird. Freundlich, anmutig.
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Egal wie ideal die Infrastruktur einer WOMEX ist: man kann nie alles sehen/hören. In Lissabon kommt etwas erschwerend dazu, dass die eine Bühne nur über einen längeren Spaziergang erreicht werden kann. Man muss sich also noch vermehrt entscheiden, auf was man verzichten will.
Marco Mezquida und sein Trio setzten gleich einen der Höhepunkte des Konzertabends. Ich war durch die letzte Veröffentlichung von Mezquida, «Letter to Milos», auf einen eher lyrischen, träumerischen Auftritt eingestellt. Es kam ganz anders. Das Trio interpretierte die Songs hochvirtuos, funky, temporeich und rhythmisch eng verzahnt. Der Witz kam nicht nur in der Musik zum tragen. «Ich stand auf der Bühne und staunte: ein weisser Flügel», meinte Mezquida bei einer Ansage. «Da bin ich doch fast verpflichtet, Imagine von Lennon zu spielen, oder gar etwas Clayderman». Was er mit rund 10 Tönen pro Melodie auch tat. …
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Es gibt eine ganze Reihe von Sängerinnen in Portugal, die in unterschiedlichen Arrangements um die Gunst des Fado-Publikums buhlen. Sara Correia hat sich für die traditionellen Zugang entschieden, und für die grosse Geste. Gegenüber dem englischen Fachblatt Songlines definierte sie ihre Kunst so: «I believe a fado singer can sing any song with different instruments and can still sound like fado. …As far as the performance goes, it’s the same. I just put everything I have into it, whoever I’m singing for.»
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Power, Energie und voller Einsatz: Djeli Tapa, ursprünglich aus Mali, heute in Montreal lebend, ist ein Powerhouse. Mit ihren Auftritten spricht sie oft direkt zu den Frauen im Publikum, fordert sie auf, selbstsicherer und überzeugter aufzutreten: Wir sind Frauen, wir sind stark. Es klingt wie eine Kampfansage, ist jedoch als Motivation gedacht: lasst euch nicht unterkriegen! In der Studioaufnahme ihres bisher einzigen Albums noch verspielt mit viel Elektronik umgarnt, setzt Djeli Tapa für ihren Live-Auftritt auf eine rockende Truppe. Die setzt auch gern auf harte Riffs, um die Power der Frontlady auszubalancieren – was sie nicht immer schaffen. Die Frau ist zu stark.
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Israel Fernández gehört zur jüngeren Generation der erfolgreichen Flamenco Sänger. Er ist zwar tief in der Tradition seiner Kunst verwurzelt, scheut aber auch nicht, poppige Songs zu interpretieren, inkl. Autotuning. Im Konzert wird er von einem Gitarristen und zwei Palmas-Könnern begleitet.
Dann erlaubt er sich einen Spass: Die Band verlässt im zweiten Teil des Konzert die Bühne. Das Publikum ist etwas konsterniert: Was, schon fertig? Sänger Fernández kehrt alleine, und singend zurück, begleitet von einem Playback voller Sequenzer-Spuren und Studiotechnologie. Um dann gleich wieder seine Band zurück auf die Bühne zu bitten. Das Konzert war sehr gut besucht, denn hier in Lissabon können auch nicht-WOMEX-Besucherinnen ganz normal Tickets buchen. Die Fans sind gekommen.
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PoiL Ueda stellen ein Klangexperiment vor: Die Japanerin Junko Ueda erzählt, begleitet von ihrem Instrument, der satsuma-biwa, eine japanische Heldengeschichte. Begleitet wird sie von einer Truppe aus Lyon, PoiL.
Wie soll ich die Musik beschreiben? Die Liedform und Darbietung von Ueda ist so exotisch und unseren Hörgewohnheiten so fremd, dass es mehr als diesen Auftritt brauchen würde, um sich damit anzufreunden – es sei denn, man ist bereits Kennerin des No-Theaters. Die Band ihrerseits kennt keine Stilgrenzen. Das ist Jazz-Art-Rock-Noise-Soundscape-Avantgarde in aufgelösten Strukturen. Fazit: staunen, ja, der Zugang dazu aber ziemlich verbarrikadiert.
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Da machten es sich die fünf Jungs aus Kanada, Le Diable à Cinq, etwas einfacher: Traditionelle Tanz-Melodien aus der Quebec-Region Kanadas, gespielt mit Engagement und Schub. Die drei Brüder Sabourin und ihre zwei Freunde packen das Publikum mit rockigen Arrangements von Gassenhauern, die hier niemand kennt, die man aber sofort mitsummen und tanzen kann. Zehn Minuten nach Konzertbeginn formieren sich die ersten Line-Dancers.
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Ganz anders Mark Eliyahu. Seine Instrumente sind die persische Kamancheh und die türkische Saz – beides nicht sehr laute Instrumente. Dass man die aber mit den richtigen Musikern und einer ausgefeilten Arragement-Technik bis zum Stadion-Bombast aufbauen kann bewies er mit seinem Auftritt hier in Lissabon.
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Auch nach drei Stücken fragte ich mich: Was spielt das Kastrup Quartet aus Brasilien da eigentlich für Musik? Angeführt von Drummer/Perkussionist Guilherme Kastrup geht die klangliche Berg und Talfahrt durch jazzige, oft improvisierende Gefilde. Pop-Phrasen, Funk-Passagen, Noise-Einspielungen und rhythmische Ausbrüche des Bandleaders sind Wendemarken in einer rasenden Fahrt ohne festes Ziel.
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Ich wunderte mich schon vor dem Konzert, als was Selma Uamusse wohl auftreten würde. Auf älteren Aufnahmen zielt die Sängerin aus Mosambik eher auf die Tanzbeine. Auf jüngeren Einspielungen sind Zurückhaltung und Zartheit angesagt. Auf der Bühne kann sie sich auch nicht sofort entscheiden, ob sie jetzt Zeremonienmeisterin, Schamanin oder Sängerin sein will. Sie entscheidet sich dann für Party-Animatorin – und es gibt noch einige BesucherInnen im Publikum, denen es um 01.30h morgens durchaus nach Party zumute ist.
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WOMEX 2022 im Überblick
Der Eröffnungsabend
Der erste Konzerttag
Der zweite Konzerttag
Der dritte Konzerttag
w. meint
Spannend! Hast für die Berichterstattung ein gutes Format gefunden.