Es war auch ein zorniger Tag, der zweite Konzerttag am Festival Les Suds, à Arles, mit Musik aus Frankreich, Algerien, Marokko, Togo und der Sahara.
Das mittägliche Rendez-Vous zum Tages-Rück- und Überblick begann mit der klaren, hellen Stimme von Chloé Breillot, begleitet von Pierrick Hardy. Die Sängerin pflegt ein Liederbuch aus allen Kulturen rund um’s Mittelmeer. Ihr morgendliches Konzert hatte ich leider verpasst.
Zorn und Widerstand dienen oft als Motor für Kreativität, und in diesem Fall für eine grosse Sammlung von Gedichten aus dem ländlichen Marokko. Aïta heisst die Gedicht- und Liedersammlung, die sich gegen die Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen gegenüber den Frauen in der Männer-Gesellschaft Marokkos richten.
Diese Gedichte, die z.T. bis ins 19. Jahrhundert zurück reichen, werden von Sängerin / Rapperin Widad Mjama und dem Electronica-Spezialisten Khalil Epi in knallharte Wortkaskaden und Beats umgesetzt. Ihr Projekt: Aïta Mon Amour
Die moderne Umsetzung dieser Gedichtsammlung ist laut, roh, zornig. An Anfang ist das Publikum vor der Quartierbühne auf dem Platz Voltaire etwas überfordert, doch dann gehen Musiker*in und Publikum aufeinander zu. Von der Bühne kommen auch leisere Töne, Lamenti, Sehnsuchtsklänge. Bei den Uptempo-Songs beginnt sich der Platz vor der Bühne mit Tänzerinnen zu füllen. Was als zornige Anklage begann wird zu einer Party der, vorab weiblichen, Solidarität.
Ganz anders anschliessend im Rahmen der Konzertreihe «Moment Précieux», der stilleren Konzerte, der Auftritt von Houria Aïchi aus Algerien.
Fast ihre ganze musikalische Karriere widmete die Musikerin der Sammlung, dem Erhalt und der Aufbereitung des musikalischen Erbes ihrer Provinz Aurès im Nordosten Algeriens.
Im aktuellen Programm versucht sie einen heikeln Spagat, singt sie doch an diesem Abend Liebeslieder, ausschliesslich von Männern geschrieben. Oder wie sie selber sagt:
Die Lieder sind zwar von stolzen, starken und gewaltbereiten Männern geschrieben, aber zutiefst von Zärtlichkeit und Sanftheit geprägt.
Houria ist eine fast zu wissenschaftliche Sammlerin, da kommen die Emotionen in ihren Interpretationen nicht zum tragen. Zudem wird sie von einem Quartett begleitet, das sie nicht wirklich trägt, sondern sich vor allem darauf beschränkt, ihrer Frontfrau akustisch nicht in den Rücken zu fallen.
Oder anders gesagt: Den Liedern hätten ein Quentchen mehr Testosteron gut getan. Es war auch auffallend, wie viele Leute noch vor Konzertende den Innenhof des Bischof-Palastes verliessen.
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Wieder eine emotionale Kehrtwende: Nana Benz aus Togo fanden – im ausverkauften antiken Theater von Arles – ein Publikum, das sie von Anfang an frenetisch feierte. Es ging dabei nicht nur um die Botschaft, welche das Quintett, angeführt von ihren drei Frontladies, übermittelten. Von der Bühne kam sehr viel Emotion und ansteckende Energie.
Nana Benz nennen ihre Musik «Digital Vodoo». Ihre Botschaft, knapp zusammengefasst:
Wer die Frauen nicht respektiert, respektiert auch nicht die Natur.
Die Botschaft, nicht nur verkleidet in Songs, sondern als Statement auf der Bühne in Klartext vorgetragen, geht weit über die bekannten, aber immer noch nicht umgesetzten Forderungen nach Selbstermächtigung hinaus.
Es geht nicht mehr nur um den Kampf für Frauenrechte, gegen Beschneidung, Kinderheirat und einvernehmlichen Sex. Nana Benz gehen weiter:
«Wir müssen zulassen, dass wir mit der Natur kommunizieren können. Wir müssen Wind und Wasser um Rat fragen. Und eines ist klar: die Verantwortung gegenüber der kommenden Generation verlangt es, dass wir sofort was ändern. Jetzt! Alle!»
Musikalisch transportiert wird die Botschaft von den Call Response Gesängen der drei Frontladies, einem Röhrenbass und einem wirbligen Schlagwerker.
Spartanische Sounds, viel Groove und eine überzeugende Bühnenpräsenz – ein elektrisierender Auftritt von Nana Benz aus Togo!
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Da wirkten anschliessend die Gitarrenhelden und Poeten Tinariwen aus dem Süden der Sahara schon etwas gar abgeklärt und routiniert. Ihr Gründer Ibrahim Ag Alhabib meinte in einer der wenigen Bühnenansagen denn auch:
Was kann ich schon Neues von uns schon sagen? Wir sind hier in Frankreich, und ihr kennt uns und unsere Botschaft seit Jahrzehnten, also spielen wir einfach.
Man sieht und hört es: die Band ist gerade auf ausgedehnter Europatour. Einige der grossen Festivals sind bereits absolviert, u.a. ein gefeierter Auftritt in Glastonbury (Festivalkritik des Guardian). Andere kommen noch. In der Folge wird das Repertoire etwas zu mechanisch abgespult.
Ich habe kürzlich die Band in einer rappelvollen Mühle Hunziken in der Berner Provinz auf einer kleinen Bühne erlebt – das hatte deutlich mehr Ausstrahlung. Hier geht viel Atmosphäre auf der grossen Bühne verloren. Trotzdem: ein guter, aber kein strahlender Auftritt.
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