Es gab zwei Änderungen im Programm. Die erste war der aktuellen Kriegssituation im Nahen Osten geschuldet. Der Auftritt von Liraz fand nicht statt. Wie die offizielle Erklärung lautete weiss ich nicht, denn ich fand nirgends ein Statement von Seiten der WOMEX. Doch die Tatsache, dass die Israelin ihre letzten beiden CDs mit Musiker*innen aus dem Iran produzierte, und die beiden Länder sich zur Zeit wegen des Krieges gegen die Hamas gerade mächtig in den Haaren liegen, dürfte den Ausschlag gegeben haben. Liraz hat alle Europa-Konzerte bis im Dezember gecancelled.
Die zweite Änderung ist wahrscheinlich auf Beamtenwillkür zurückzuführen: Auch nach zweitmonatiger Eingabezeit erhielt Roger Damawuzan, der «James Brown aus Togo», kein Visum für seine Reise nach Europa. Warum solche Reiseeinschränkungen immer wieder stattfinden – ohne ersichtlichen oder geäusserten Grund – bleibt unverständlich.
Doch kommen wir zu den Konzerten, die am letzten Konzerttag in A Coruña tatsächlich stattfanden:
Der Poet und sein Pianist, Arnaldo Antunes und Vitor Araújo, brachten ihre jüngste Zusammenarbeit «Lagrimas No Mar» auf die Bühne. Der Sänger in einem Auftritt, der ein wenig an Leonard Cohen erinnerte. Doch schöpft Antunes klar aus der brasilianischen Songwriter-Tradition. Pianist Vitor Araújo unterstützt den Sänger und Rezitator Antunes nicht nur in jeder Silbe seiner Worte, er pflegt auch eine intensive Beziehung zu seinem Instrument.
Da er immer wieder über seiner Klaviatur buckelt hätte man meinen können, dass er mit seiner Nase als elften Finger die Tastatur bedient. Er ist auch Soundtechniker: Mit Zupfen, Klöpfeln, Reiben und Schaben der Pianoseiten direkt im Innern des Flügels, gesammelt über eine Loopstation, erzeugte er sehr interessante Perkussions-Figuren. Zwei Musiker, die ihren Instrumenten, Stimme und Piano, mehr abforderten als man dies gewöhnlich hört. Das Resultat: ein dichter Liederabend.
Breitleinwand-Folk mit Jazzverzierungen gab es von Matt Carmichael. Mit seinen ziemlich untypischen Folk-Instrument, einem Saxophon, und Kompositionen, die stark beeinflusst sind von der schottischen Herkunft, sorgt er seit zwei Alben für frischen Klang auf der englischen Insel. Die junge Truppe, zusammengesetzt mehrheitlich aus Mitstudenten am Royal Conservatorye of Scotland, tanzt munter und gleichzeitig unbeschwert zwischen Tradition und heutigen Klang-Hörgewohnheiten hin und her. Da wird mehr kommen, da bin ich überzeugt.
Jausmé, die Kantele-Spielerin aus Litauen, sitzt alleine auf der grossen Bühne, und entschuldigt sich in ihrer Bühnenansage, dass sie ein britisches Englisch spreche, kein litauisches. Doch sie komme eben von einem mehrjährigen Aufenthalt auf der britischen Insel wieder zurück. Nun, sie hat dort nicht nur Englisch aufgeschnappt, sondern auch Harmonien, die wahrscheinlich so in der litauischen Folklore nicht zu finden sind: ein paar R’n’B Phrasierungen, einige Blues-Anleihen. Und Janis Joplin hat sie sich auch öfter angehört. Aber passt alles sehr gut zusammen. Selbstsicher und charmant.
Das Quartet Ailá ist im Songbook Galiziens, und physisch gleich in der Nachbarschaft, in Santiago de Compostela, zuhause. Die Instrumentierung ist für nicht-galizische Ohren etwas ungewohnt: Akkordeon, über das auch eine Basspauke getriggert ist, Gaita, verschiedene Tambourine und eine Trompete. Dazu die drei Stimmen. Das Repertoire: klassisch. Und das schlägt auch wenig auf die Darbietung durch. Die ist etwas steif, wie man es von einer Museumsführung erwarten kann.
Das französische Duo Ko Shin Moo hat seine Arbeit gut aufgeteilt: Axel Moon muss arbeiten, denn neben der Bedienung seiner elektronischen Instrumente ist seine elektrifizierte und hochgradig verfremdete Saz das melodie-angebende Arbeitsinstrument auf der Bühne. Niko Shin kann es geruhsamer nehmen. Für ihn spult der Computer Loops und Arpeggien ab, die der Klangbauer zuhause vorbereitet hat. Nun kann er ein bisschen auf der Bühne herumturnen. Im Kern spielen die beiden Techno, mit einem Hauch von Exotik. Nicht sehr aufregend.
Die junge griechische Sängerin Erini ist gerade von ihrem Studium in New York hierher eingeflogen. Ihre Mitmusiker*innen – sie wird von Lyra und Cello begleitet – hat sie erst hier getroffen. Wahrscheinlich war da nicht viel Zeit zum einüben des Repertoires. Die beiden sitzen vor grossen Notenpulten. Das die Ausgangslage.
Das Ergebnis: alles sauber, alles sehr professionell, über weite Strecken aber mehr Vortrag als Konzert. Die Songs an sich wären schon eine Entdeckung wert gewesen, denn sie stammen vor allem aus der Zeit vor der Vertreibung der Griechen aus Anatolien nach dem griechisch-türkischen Krieg vor rund 100 Jahren. Doch diese Lieder wollten so aus dem Stand heraus nicht zum Leben erwachen.
Plattentaufe für Ríoghnach Connolly und Stuart McCallum, a.k.a. The Breath. Die Sängerin und der Gitarrist stellen ihre brandneue, dritte Produktion «The Land Of My Other» (Spotify) live vor, und es scheint, als seien die Songs bereits road-proved. Ich hörte zum Vergleich spät in der Nacht noch in die Aufnahme rein. Die Songs klingen live besser!, weil direkter, weil im Dialog mit dem Publikum. Es sind Songs, die einem ganz nah kommen, interpretiert von einer Stimme, die zwischen lauter Klage und erzählendem Wispern alle Register ziehen kann. Umspielt von einem Gitarristen, der für jede Melodie einen tragfähigen Teppich ausrollt. Ein grosses Folk-Duo.
Hoch zu und her ging es auf der Zeltbühne im Hafengelände. Auf der Bühne zwei Männer, Puuluup, und ihre zwei urigen, kleinen Instrumente: Talharpa. Rund um den einen, Ramo, liegt ein Arsenal von Effektgeräten. Mit diesen, und seinem unscheinbaren Instrument, unterschiedlich traktiert, stapelt er jeweils Schicht um Schicht in seinem Loopgerät ab.
Unterdessen erzählt Marko die nächste Geschichte aus seinem Fundus von Unglaublichem und Geflunker. Es gibt ein Liebeslied an die Windräder in der estnischen Landschaft, oder eines über die Freuden des Langlaufs. Schräges, das dem studierten Soziologen schon immer aufgefallen ist, oder das er erfindet wenns zu normal wird. Die Bühnenshow der beiden ist eine Mischung zwischen Slapstick und Buster Keaton – inkl. Stagediving. Manchmal ist die Darbietung so lustig, dass ihre wirklich guten, lakonischen Songs fast zu stark in den Hintergrund treten.
Dann kommt für mich die Überraschung des Abends: Trilitrate, ein weiteres galizisches Trio: Geige, klassische Gitarre, Akkordeon. Sie nennen ihre Art von Musik «imaginären Folk». Doch in Wahrheit sind sie absolut stilfrei. Sie wechseln zwischen Flamenco, Jazz, Folk, Klassik und undefinierbaren Klangwolken mit schon fast zappa-eskem Schalk hin und her. Grandioses Handwerk, Verspieltheit, Melodienreichtum, Unbekümmertheit, Witz. Das Ganze wird begleitet von einer Videoartistin, welche die musikalische Vielfalt mit live-Zeichnungen und Sequenzen aus dem Rechner um eine zusätzliche Dimension erweitert. Ganz grosses Spektakel.
Mit DefMaa MaaDef sind wir wieder auf der Disko-Bühne gelandet. In der Welt von Silberglitzer und Showtime. Die beiden Frontladies könnten unterschieden werden, indem die eine als Rapperin antritt, die andere als Sängerin. Doch auf der Bühne verschiebt sich die Rollenverteilung zu einem sowohl/als-auch Mikrofongebrauch. Und im Hintergrund bauen zwei digitale Schrauber Soundschwaden und rufen Loops ab.
Ana Carla Maza hat in kurzer Zeit mit ihrer Bühnenpersönlichkeit eine Häutung durchgemacht. Ihre Anfänge in den letzten Jahren waren herrlich spritzig, ausgelassen, burschikos. Die gebürtige Kubanerin, jetzt eingeheimatet in Frankreich, tanzte manchmal mit ihrem Cello über die Bühne, explodierte vor lauter Lebensfreude und Showtalent.
Noch im Frühling trat sie mit demselben Trio in Marseille auf (Reportage globalsounds). Da wirkte nur der Klangkörper vergrössert, die Spritzigkeit war noch da. Jetzt hat sie ein neues Album eingespielt, und macht damit auf ziemlich seriös. Das Konzept: Eine Reise durch die Latin-Rhythmen Südamerikas und der Karibik. Das klingt bunt, und ihre Freude am Wechsel von Merengue zu Cumbia wirkt glaubhaft. Doch sie ist ruhiger geworden, hält sich zurück, so als müsste sie ihr Trio tragen, und nicht ihre Bandmitglieder sie. Viel Spontaneität und Jugendfrische fehlt jetzt.
Gegensätzlicher könnte der Klang der Instrumente des Duos ZeMe nicht sein: Die stillen Arpeggien der Kantele und der archaische Klang der Maultrommel, im Dialog mit den Subbässen und fetten Klangwolken aus den Rechnern. Aber Laima und Uldis suchen in jedem Song eine Balance, finden sie zuweilen, doch fast zu oft gewinnt der Computer. Auf jeden Fall erkunden die beiden Lett*innen ein neues Klangterritorium, und finden unerwartete Aussichtshügel.
Das letzte Showcase der WOMEX bringt Gitarrenpower aus Bamako. Es sind alte Hasen, die hier auf der Bühne stehen – und nichts anbrennen lassen: Bamba Wassoulou Groove. Sänger Ousmane Diakité treibt nicht nur die Band, sondern auch das Publikum an.
Die Ursprünge der Truppe liegen in den 80er Jahren, als Rockmusik in Bamako Einzug hielt. Die Super Rail Band (YouTube) lieferte viele Musiker der ursprünglichen Truppe. Leider sind gerade die für diesen Sound so wichtigen Gitarristen immer verstorben. Die Überlebenden – es ist jetzt die dritte Gitarrengeneration – halten die Fahne hoch: Gitarren-Breitseiten und viel Schub kommen von der Bühne.
Es wäre etwas verfrüht, ein gültiges Fazit zu ziehen über die diesjährige Ausgabe. Das muss noch etwas einsinken. Für den Moment würde ich sagen: In Sachen Einbezug der neuen digitalen Spielwiesen der Weltmusik ins Gesamtkonzept haben die Programmverantwortlichen kein gutes Händchen bewiesen. Das geht besser! Auch bei traditionelleren Bands könnte etwas mehr Innovation gezeigt werden. Insgesamt durchzogen, weil in der Grundstimmung vor allem bloss solid, nicht sehr viele Entdeckungen, und leider eine rechte Handvoll Enttäuschungen.
Die WOMEX 2023 im Reportage-Überblick
Der Eröffnungsabend
Die erste Konzertnacht
Die zweite Konzertnacht
Die dritte Konzertnacht
Schreibe einen Kommentar