WOMEX bietet immer Kontraste. Auch die diesjährige Ausgabe begann mit dem vollen Klangspektrum zwischen leise und laut, zwischen «aah», «ooh» und «echt jetzt»?
Ein «aah» gab’s schon am Mittag, beim Auftritt von Ustad Noor Bakshs und seinem wirklich seltenen Instrument, einem Benju. Es wurde ursprünglich aus einem Banjo entwickelt, hat eine erste Abwandlung in der Form eines japanisches Kinderinstruments erlebt – «du musst die Saiten nicht direkt drücken, sondern hier, mit diesen Hebelchen». Der Musiker hat das Instrument dann seinen Wünschen entsprechend angepasst. Verstärkt wird es über einen Miniverstärker, mit Autobatterie betrieben. Archaisch, trance-haltig, rockig! Die Melodien sind der Natur abgelauscht, oder auf langen Handels-Reisen zwischen der arabischen Halbinsel, dem Iran und Indien eingefangen. Toll!
Ein erstes «ooh» gab’s am Abend für Valeria Castro. Sie scheint eine Durchstarterin zu sein – viele Preise eingeheimst und eine ausgewachsene Südamerika-Tour auf dem Terminzettel. Ihre beiden grossen Stärken wurden schnell hörbar: eine Stimme, gemacht um Emotionen zu transportieren, zuhause zwischen Zerbrechlichkeit, Tändelei und Selbstsicherheit. Verletzlich und stark liegen nur vier Töne auseinander. Unterstützt wird sie von einer Truppe die alles macht, um die Sängerin glänzen zu lassen. Die Songs liegen irgendwo zwischen Geschichten erzählend, Sehnsucht, bis hin zu leicht kitschig.
Les Héritières sind drei Diven aus dem Magreb, die gemeinsam das Erbe von Cheikha Rimitti verwalten. Sie tun das nicht unbedingt überzeugend. Rimitti war in den golden Raï-Zeiten Ende des letzten Jhd eine der führenden Sängerinnen Algeriens, nutzte die Musik um für die Sache und die Themen der Frau einzustehen, trat stark und selbstermächtigt auf. Die drei Sängerinnen auf der Bühne, und ein etwas zu nachlässiges Orchester, verbreiten zwar einen Hauch von Magreb, aber sie nutzen die Songs der Cheikha als Scheinwerferlicht für sich selbst. Sie tragen wenig dazu bei, dass das Erbe wirklich zu neuem Leben zu erwecken.
Gespannt war ich auf den Auftritt von Mouvman Alé aus La Réunion. Ihre Voodoo-Maloya-Mischung hätte grosses Potential, und in ihrer EP (bandcamp) blitzt auch Schalk und Witz auf. Auf der Bühne aber setzen sie ihr Konzept in den Sand. Alles basiert auf Rhythmus-Instrumenten. Selbst die Gitarre wird öfter mit einem Knüppelchen geschlagen als gespielt. Ein Theremin sorgt für wabernde Stimmung. Aber die Perkussion ist fahrig, unpräzise. Der Bühnenauftritt von Fransma Virassamy-Macé wirkt wie aus einem Drehbuch für einen B-Movie. Da hätte mehr drin gelegen.
Solide und (etwas zu sehr) ausbalanciert war der Auftritt von Júlia Kozáková und ihrer Band. Alle Töne sitzen, der erste Geiger Viliam Didias führt seine Truppe sicher durch das Set, fängt jedes Atemholen der Sängerin auf. Die Musiker und ihre Sängerin aus Bratislava schöpfen ihre Lieder aus dem weiten Roma-Repertoire – und da liegt wohl auch der Grund für meine leichte Reserviertheit: Es fehlt der Interpretation die unterschwellige Rauheit der Herkunft dieser Songs. Sie sind zu sauber interpretiert. Ich bin todsicher, an einem Fest kann diese Truppe mächtig aufdrehen. Hier an der WOMEX spielen sie mit angezogener Handbremse.
Zum Auftritt von Florence Adooni schaffte ich es gerade noch zur Zugabe: FraFra Gospel mit Highlife-Motor aus Ghana waren angesagt. Einige haben die Sängerin vielleicht schon live gesehen, als Sängerin in der Band von Alogte Oho (z.B. Afropfingsten 23). Jetzt will sie es auch als Solistin wissen. Ein sehr vertrauenswürdiger Kollege meinte: hübsch. Nun, das kann man mehrfach deuten. Ich hole mir dann noch ein genaueres Feedback ein.
Sehr charmant war der Auftritt der Sängerin / Perkussionistin Magalí Sare und ihres Stehbass-Partners Manel Fortià. Etwas Cabaret, viel Verspieltheit, grosse Stimme und sehr unterhaltsam. Denn trotz Witz und luftigem Auftritt spielt die Musik die Hauptrolle. Solide und mitatmend die Arbeit des Bassisten – auch wenn man seinen Bass zuweilen etwas bedauerte, wurde der doch geschlagen, mit Glocken und Rasseln behängt, gekratzt oder über’s Knie gelegt. Die Sängerin ihrerseits setzte eine wunderliche Perkussionsauswahl dezent ein – und sang mit jugendlichem Übermut, aber sehr sicher. Erfrischend!
Aus der Demokratischen Republik Kongo kommt einmal mehr eine Band, die auf ein bekanntes Rezept zurückgreift: Bastle deine Instrumente aus Recycling-Materialien selber, entwirf ein afrofuturistisches Bühnenkostüm und setze auf durchgehende Beats. Dass der Auftritt von Kin’Gongolo Kiniata in einem Club stattfand unterstützte die Stimmung, verhalf aber nicht dazu, dieses Showcase als Highlight bezeichnen zu können.
Selbst wer sich mit den Joiks der Sami aus dem hohen Norden immer wieder auseinandersetzt, wird nie ganz begreifen, was genau gemeint ist, wenn Annámáret sagt: «Ich joike die Berge und das Wasser». Da fehlt einem ein spezieller kultureller oder gar DNA-Dreh. So bleibt das Konzert der Sängerin berührend, aber es dringt nicht ein. Die Jouhiko von Ilkka Heinonen, die Flöten von Turka Inkilä plus Visuals und Sounds aus dem Rechner, umrahmen die Stimme der Sängerin. Insgesamt bleibt ein Echo von Weite, Leere, Kargheit und, ja – Verbundenheit.
Ich muss eines meiner Vorurteile korrigieren (und mache das noch ganz gerne): die schnellsten Geiger kommen nicht mehr aus Ungarn, sondern aus Herzegovina. Daniel Lazar ist der Beweis dafür: pfeilschnell, aber ohne übertreiben zu wollen, und immer wieder mal auch zu einer traurigen Melodie ansetzend. Immer gut und rundherum unterstützt vom bosnischen Akkordeonisten Almir Meskovic. Ein federndes Duo, hohes Handwerk.
Die Schotten, die als Elephant Sessions auf der Bühne stehen, haben die heimatliche Tanzmusik mit viel Elektronik und Loops angereichert. Ich erlaube mir zu sagen: überfrachtet. Denn wenn die Geige oder die Mandoline nur noch in ihren metallenen Frequenzen gegen die wuchtigen Subbässe und das bretternde Schlagwerk durchsetzten können, wenn Brachial-Schalldruck die Melodien totschlägt, liegt etwas im Argen. Oder wie es eine Musikerin am Konzert kommentierte: «Ich höre das Holz der Instrumente nicht mehr». Ja, leider genau so.
Charmant dann wieder der Auftritt von Neomak. Diese Frauentruppe ist aus einem Projekt von Kepa Junkera entstanden. Der baskische Akkordeonist stellte für sein Projekt «Sorniak» einen Frauenchor zusammen (Teile des Projekts wurden an der WOMEX Eröffnung 2016 in Santiago de Compostela vorgestellt). Die jungen Frauen haben den Faden aufgenommen, ihren Chor vergrössert, aber die Zutaten blieben gleich: Viel Perkussion, etwas Akkordeon und vor allem Stimmen, gerne auch mal einstimmig, dann wieder polyphon arrangiert. Charmant, aber etwas zu vorsichtig.
Die erste Band aus Kolumbien an diesem ersten WOMEX-Abend kommt aus Medellin. DJ und Produzent Killabeatmaker pflegt einen nicht allzu überdrehten Mix aus afrokolumbianischen Rhythmen, z.T. auch live getrommelt, und angesagten Sounds aus den Rechnern. Der Mix kann auch in die etwas psychedelischeren Sound-Landschaften eintauchen, die man sonst von argentinischen Produzenten wie Chancha Via Circuito kennt. Besonders dann, wenn Guadalupe Giraldo Hincapié das Mikro übernimmt. Insgesamt etwas emotionslos.
Kopfschütteln, rätseln und ohne Lösung dann nicht allzulange im Teatro Colón verweilen. Auf der Bühne eine an sich schon ziemlich gewagte Instrumenten-Mischung: Tuba, Akkordeon, Schlagwerk. Plus die Akkordeonistin Livia Mattos am Gesang. Musikalisch wurde ein sehr seltsames Gebräu kreiert: kaum ein Tempo, das nicht nach ein paar Takten gebrochen wurde – was den Schlagwerker ziemlich ins hüpfen brachte – die Akkordeonistin, die ziemlich fahrig durch die Harmonien rauschte, und ein Tubist, der mehrheitlich auf satellitenartigen Solopfaden unterwegs war. Ausser wenn ein Song es zwingend verlangte. Dann konnte man sich zwischendurch auf ein paar gemeinsame Takte treffen. Dass die Akkordeonistin lange in der Zirkuswelt zuhause war hilft zum Verständnis des Auftritts, aber nicht zu jenem der Musik.
Es gibt verschiedene Arten von Fusion-Music. Was Julen Achiary und seine Mitstreiter von Haratago vermischen ist aber schon exklusiv: alte baskische Melodien mit einem Klangkörper, entliehen der aserbaidschanischen und türkischen Tradition, auf Instrumenten wie der Duduk oder der Viola da Gamba interpretiert. Das klingt nach tiefem Mittelalter, das auf die Maqam-Tradition des Nahen Ostens trifft, und unvermittelt in die freie Improvisation von europäischem Jazz überkippt. Ein bisschen anstrengend ist es, hier zuzuhören.
Da machen es einen die Sonora Mazurén schon einfacher: die Truppe rund um den Akkordeonisten und Tastenmann Ivan Medellín setzt sich aus Musiker*innen zusammen, die sonst bei den Meridian Brothers, La Perla oder in der turbulenten Indie-Szene von Bogota anzutreffen sind. Cumbia, verdrehter Salsa, Afrorhythmen, und die mittlerweile schon fast wie eine Marke wirkende psychedelische Schrägheit der Produktionen aus Kolumbiens Hauptstadt, laden zum Tanz. Party bis 01.30 ist angesagt.
Let’s call it a night!
Die WOMEX 2023 im Reportage-Überblick
Der Eröffnungsabend
Die erste Konzertnacht
Die zweite Konzertnacht
Die dritte Konzertnacht
Schreibe einen Kommentar